Deutscher Journalist in der Türkei Deniz Yücel seit 365 Tagen in Haft ohne Anklage

Ankara/Berlin · Am Mittwoch jährt sich die Festnahme des "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel. Mehr als 150 Journalisten sitzen derzeit in der Türkei noch hinter Gittern.

Deniz Yücel.

Deniz Yücel.

Foto: dpa

Er ist die Symbolfigur der deutsch-türkischen Spannungen: Deniz Yücel, der in Flörsheim am Main geborene Deutsche, der seit 2015 Türkei-Korrespondent der "Welt" war, wurde am 14. Februar 2017 in Istanbul in Polizeigewahrsam genommen.

Der 44-Jährige ist der prominenteste von fast 30 Deutschen, die seit dem Putschversuch im Juli 2016 in der Türkei aus politischen Gründen verhaftet worden sind. Die Mehrzahl von ihnen kam wieder frei, wie der Menschenrechtler Peter Steudtner. Im Fall Yücel gibt es bis heute keine Anklage.

Zum Verhängnis könnten ihm zwei Artikel vom Dezember 2016 geworden sein. Yücel berichtete damals in seiner Zeitung über kompromittierende angebliche E-Mails des Schwiegersohns von Recep Tayyip Erdogan und Energieminister Berat Albayrak, die bei Wikileaks nachzulesen waren. Dabei ging es um die Kontrolle türkischer Medienkonzerne und die Beeinflussung der Öffentlichkeit durch fingierte Nutzer im Kurznachrichtendienst Twitter.

Brisant sind diese Mails vor allem, weil sie das unmittelbare Umfeld von Staatschef Erdogan betreffen. Im Zusammenhang mit der E-Mail-Affäre waren sechs türkische Journalisten festgenommen worden. Als Yücel erfuhr, dass auch gegen ihn ermittelt wird, stellte er sich am 14. Februar in Istanbul der Polizei und wurde festgenommen.

Zwei Wochen später ordnete ein Richter Untersuchungshaft gegen Yücel an. Sie kann in der Türkei bis zu sieben Jahre dauern, so ein Notstandsdekret, das Erdogan im August 2017 erließ. Der Journalist sitzt seither in der Haftanstalt Silivri westlich von Istanbul, mit über 10.000 Insassen das größte Gefängnis Europas. Yücels anfängliche Isolationshaft wurde inzwischen gelockert. Nachdem er fast 300 Tage ohne Kontakt zu anderen Gefangenen in einer Einzelzelle sitzen musste, wurde er im Dezember in eine Zelle verlegt, die über einen kleinen Innenhof mit zwei anderen Zellen verbunden ist. Mit einem Mitgefangenen kann er nun Hofgänge unternehmen.

Wie viele inhaftierte Journalisten hat Yücel das türkische Verfassungsgericht angerufen und Beschwerde gegen seine Untersuchungshaft erhoben. Aber unter dem Ausnahmezustand, der seit dem Putschversuch herrscht, werden die Verfassungsrichter immer machtloser. So ordnete das Verfassungsgericht im Januar die Freilassung der Journalisten Sahin Alpay und Mehmet Altan an. Regierungspolitiker übten heftige Kritik an dieser Entscheidung, und die zuständigen Strafgerichte ignorieren sie. Die Journalisten sitzen weiter in Untersuchungshaft.

Yücels Anwälte haben auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) angerufen. Er wird voraussichtlich Ende Juli über Yücels Klage entscheiden. Urteilt der EGMR, dass Yücels Inhaftierung dessen Grundrechte verletzt, müsste die Türkei als Mitglied des Europarats ihn eigentlich freilassen. Abzuwarten bleibt, ob sie ein solches Urteil umsetzen würde.

Das letzte Wort dürfte Erdogan haben. Schon seit seiner Wahl zum Staatschef im August 2014 ging er rigoros gegen Kritiker vor. Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 erhöhte er den Druck. Laut einer Aufstellung des Online-Portals "Turkey Purge", das Erdogans "Säuberungen" dokumentiert, wurden seither 189 Medienorganisationen geschlossen und 319 Journalisten festgenommen. Davon sitzen aktuell etwa 180 in Untersuchungs- oder Strafhaft.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen steht die Türkei auf Platz 155 von 180 Staaten. Erdogan hat eine andere Wahrnehmung: "Was die Pressefreiheit angeht, ist die Türkei eines der führenden Länder der Welt", erklärte er im Januar.

Yücel dürfte auch ein Hauptthema des Gesprächs von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim sein, den sie morgen in Berlin empfängt. "Diese lange Haft ohne Anklageschrift, ohne Einleitung eines ordentlichen Gerichtsverfahrens, ist natürlich eine Belastung der Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei", ließ Merkel ihren Regierungssprecher Steffen Seibert Anfang der Woche zu Protokoll geben.

Die deutsche Kritik zielt vor allem auf Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Seine Politik und seine Äußerungen stehen ganz offenkundig hinter den Problemen, die die türkische Justiz mit dem Dauer-Untersuchungshäftling Yücel hat. Zwar konnte der deutsche Generalkonsul nach der Intervention Merkels bei Yildirim inzwischen acht Mal Yücel im Gefängnis besuchen. Auch durfte Yücel seine Verlobte, die Fernsehproduzentin Dilek Mayatürk, hinter Gittern heiraten. Doch anders als bei sechs anderen politischen Gefangenen, die Ankara inzwischen freigelassen hat, kommt das Verfahren bei Yücel nicht in Gang.

Die Kanzlerin hält grundsätzlich ein gesichtswahrendes Vorgehen immer für aussichtsreicher als einen offenen Schlagabtausch. Sollte die Bundesregierung aber je planen, Yücel gegen Waffen zu tauschen, wie die Linke es unterstellt, hat Yücel seine Botschaft dazu schon veröffentlicht: "Für schmutzige Deals stehe ich nicht zur Verfügung."

(may-)
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