Peter Tauber und Hubertus Heil im Wahlkampf Auf der Matte

Ratingen/Peine · Spitzenpolitiker reden im Fernsehen, nicht im Vorgarten. Wenn sie diese Regel brechen, ist Wahlkampf. Die Generalsekretäre von CDU und SPD klingeln an Türen ganz normaler Menschen. Was geschieht, wenn Peter Tauber und Hubertus Heil auf die Wirklichkeit treffen?

 Hubertus Heil und seine Mitstreiterin Leonie Pfeiffer hinterlassen im niedersächsischen Peine SPD-rote Rosen.

Hubertus Heil und seine Mitstreiterin Leonie Pfeiffer hinterlassen im niedersächsischen Peine SPD-rote Rosen.

Foto: Rasche

Der junge Mann, der die Tür öffnet, trägt Fünf-Tage-Bart, Kind und eine rote Unterhose. Die Haare stehen in sämtliche Himmelsrichtungen ab. Es ist kurz nach zehn an einem Samstag im August, der Wecker hat eben erst geklingelt. Und jetzt steht Hubertus Heil auf der Matte, mit Rose und Zehn-Punkte-Parteiprogramm in der Hand. "Ich wollte mich persönlich vorstellen, damit Sie mich nicht nur vom Plakat kennen", sagt er. Der junge Mann nimmt die Rose, bedankt sich, und sieht aus, als sei es das Normalste auf der Welt, dass gerade der SPD-Generalsekretär an seiner Tür geklingelt hat.

Peine in Niedersachsen, irgendwo zwischen Hannover und Braunschweig, ehemalige Stahl-Hochburg, Schokoladenfabrik, Höhepunkt des Jahres: das Freischießen. Hier liegt der Wahlkreis 45, Gifhorn-Peine, in dem der Abgeordnete Heil seit 1998, seit Kanzler Schröder also, das Direktmandat hält. Gifhorn ist in Händen der CDU, in Peine regiert die SPD - kein ganz einfacher Wahlkreis. Hubertus Heil ist in der 50.000-Einwohner-Gemeinde aufgewachsen. "Ich kenn' Sie doch", sagen die Menschen, wenn er sich vorstellt. In Peine ist Heil König.

Am 24. September wählen die Deutschen einen neuen Bundestag, ein Festakt der repräsentativen Demokratie. Die Repräsentanten buhlen um die Stimme der Repräsentierten - 2017 tun sie das so digital wie nie zuvor. Selbst der Haustürwahlkampf hat als Element klassischer Parteiarbeit ein Update erfahren. Beide Volksparteien haben eine App entwickelt, die ihre Parteimitglieder für den Haustürwahlkampf disziplinieren und motivieren soll.

Big Tauber is watching you

 Straßenwahlkampf der CDU in Ratingen - mit Peter Tauber und dem CDU-Bundestagsabgeordneten Peter Beyer.

Straßenwahlkampf der CDU in Ratingen - mit Peter Tauber und dem CDU-Bundestagsabgeordneten Peter Beyer.

Foto: red

An einem Mittwochabend steht die personifizierte Disziplin in Form von Peter Tauber vor einem modrigen Jägerzaun, der ein bürgerliches Refugium in Ratingen begrenzt. Die Bio-Tonne, brauner Deckel, wartet abholbereit. Der schmale Streifen Vorgarten, viel Rasen, ein paar Blumenkübel, ist adrett gepflegt. Hinter einem Weg aus Rasenkantensteinen wartet eine Tür aus Holzbalken, mit Spion und Klopfer. Hinter dieser Tür steckt Leben, eine Geschichte, ein Abenteuer und, vielleicht, eine Überraschung. Hinter dieser Tür steckt womöglich Wut, Stress oder Wollust. Das kann Peter Tauber nicht wissen. Er ahnt bloß: Hinter dieser Tür steckt wahrscheinlich ein CDU-Wähler.

Tauber leitet Merkels Wahlkampf, er ist der Generalsekretär der Christdemokraten. Im April schon hatte er sich in einem Bus im CDU-Design zehn Tage lang aufgemacht, um Abgeordnete in ganz Deutschland für den Haustürwahlkampf zu begeistern. Mit der App "Connect 17" kann er vom Konrad-Adenauer-Haus in Berlin aus überwachen, wer wie oft an welcher Tür geklingelt hat. Big Tauber is watching you.

Es ist ein nieseliger Tag in Ratingen, Peter Tauber hat eine blaue Funktionsjacke über sein kleinkariertes Hemd gezogen. Die Junge Union wollte zum Auftakt Wassereis am Schwimmbad verteilen, aber es ist niemand da, der eins nehmen könnte. Tauber, Oberleutnant der CDU-Reserve, gibt den Helfern ein paar Hinweise aus der Parteizentrale mit. Etwa diesen: "Kugelschreiber oder Einkaufschip? Ich empfehle, den Leuten beides zu geben." Oder: "Kleiner Tipp: Vor dem Klingeln mal auf das Klingelschild gucken. Menschen freuen sich, wenn man sie beim Namen nennt."

"Da ist jetzt keiner, die Frau hat Nachtschicht"

In dem Viertel, in dem die CDU-Trupps unterwegs sind, müssen sie allerdings nicht auf die Klingelschilder gucken. Die ortsansässige Ratsfrau, Margret Paprotta, kennt hier jeden. Sie läuft ein paar Meter hinter Tauber und ruft Sätze wie: "Die sind im Urlaub" und "Da ist jetzt keiner, die Frau hat Nachtschicht". Dieses Wissen hat Margret Paprotta Taubers App voraus.

Die CDU-App "Connect 17", das ist Big Data im Bundestagswahlkampf. Auf einer Karte sieht jeder Kandidat einen Haufen blauer Punkte. Das ist das Kapital der Kampagne, denn hinter jedem blauen Punkt verbirgt sich Wählerpotenzial. Tauber sagt: "Wir gehen natürlich dahin, wo wir CDU-Wähler vermuten." Es ginge darum, die eigenen Sympathisanten zu mobiliseren. "Wenn ich bei jemandem klingel, der eher der SPD zugeneigt ist, dann erinnere ich den Falschen an die Wahl", sagt der Generalsekretär.

Anderthalb Jahre lang haben sie im Konrad-Adenauer-Haus den Haustürwahlkampf vorbereitet, mit Probeläufen bei den Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Dazu hat die CDU in 200 Lehrgängen mehr als 11.000 Mitglieder geschult. Natürlich hat die Union auch schon in der Vergangenheit geklingelt, aber in dieser Form, mit dieser professionellen Struktur, auf Grundlage einer Potenzialanalyse, wie es heißt, ist es das erste Mal. Das bedeutet auch: Jeder Wahlkämpfer führt in seinem Handy detailliert Protokoll. Alter und Geschlecht des Besuchten werden vermerkt, Straße und Hausnummer, aber auch seine Reaktion in Form eines Smileys: Freude, Trauer oder Gleichgültigkeit. Mit der Idee, dass man bei den Gleichgültigen ja noch mal vorbeischauen könnte.

Eine rote Rose ohne Dornen

Zurück in Peine. Hubertus Heil wirkt irgendwie müde, ist es aber nicht. Wenn ihn ein Rentner auf die niedersächsischen Turbulenzen im Landtag anspricht, reagiert er sofort. Heil ist nach der Personalrochade in der SPD überstürzt zum zweiten Mal in seiner Karriere Generalsekretär geworden, und das in einer ziemlich heiklen Phase. Das Ergebnis von Martin Schulz sollte schon besser werden als das von Peer Steinbrück 2013 (25,7 Prozent) und freilich besser als das von Frank-Walter Steinmeier 2009 (23 Prozent). Heil übernahm, weil er das Willy-Brandt-Haus schon kennt. Weil er schon mal Wahlkampf gemacht hat. Heil jammert nicht, er arbeitet einfach viel und hart. Keine Sitzung verlässt er mehr ohne eine Entscheidung. "Es ist keine Zeit mehr für Vertagen", sagt er. Heil glaubt an die Kampagne, er glaubt daran, dass soziale Gerechtigkeit das richtige Thema ist, und er glaubt an den Kanzlerkandidaten Martin Schulz.

Treffpunkt für sein Team, drei Frauen, drei Männer, ist die Mau-Mau-Siedlung. Ein altes Arbeiterviertel, wo der heimische Stahlriese vor Jahren Zuschüsse zu den Häusern gegeben hat. Links steht ein sehr alter weißer Kleinbus, rechts ein sehr neuer bunter Kleinbus. Wahlkampfmobile von 1998 und 2017 im direkten Vergleich. "Die Kiste ist deutlich moderner", sagt ein Genosse. "Die andere war damals auch modern", sagt Heil.

Der Einkaufschip der SPD ist eine rote Rose ohne Dornen. Eine Frau öffnet die Tür, guckt genervt, sieht Heil, bekommt eine Rose - und lächelt. Blumen verbinden, in diesem Fall eben eine Bürgerin aus Peine mit einem Mann, der derzeit fast jeden zweiten Tag in der "Tagesschau" zu sehen ist. Hubertus Heil sagt, ist ja klar, fast immer denselben Spruch: "Ich würd' mich freuen, wenn Sie am 24. September zur Wahl gehen und vielleicht sogar die SPD wählen", sagt er. "Mach ich", sagt die Frau. Und lächelt. Gerade ist die Tür zu, da klingelt das Handy. "Martin Schulz" steht auf Heils Display. Kurze Absprachen, "Grüße vom Vorsitzenden". Es ist nicht das einzige Mal, dass der Kanzlerkandidat an diesem Vormittag anruft.

Normalbürger meets Spitzenpolitiker

Auch die Sozialdemokraten haben das Klemmbrett durch ein Smartphone ersetzt. Das Konzept funktioniert wie bei der CDU. Nur geschieht das alles bei der SPD geräuschlos, beinahe selbstverständlich. Akribisch tippt der Vorsitzende der Jungen Union in Ratingen, Tobias Thrun, der sich auf der Internetseite der Jugendorganisation mit den Worten "Hey, ich bin Tobias" vorstellt, alles in sein Handy. Bei der SPD notieren sie ihre Eindrücke eher beiläufig. Eva Folta, die politische Ziehmutter von Hubertus Heil, für die er mit damals 21 Jahren den Wahlkampf leitete, sagt: "Wir sind schon 1994 von Tür zu Tür gezogen." In Niedersachsen nix Neues.

Der Normalbürger trifft ja eher selten auf Spitzenpolitiker. Er sieht sie im Fernsehen, nicht in seinem Vorgarten. Wenn diese starre Regel durchbrochen wird, muss also eine Wahl anstehen. Es ist ein charmantes Experiment: Was geschieht, wenn ein Politprofi aus der Berliner Käseglocke der deutschen Alltagswirklichkeit begegnet? Es heißt doch, das ist eine andere Welt da in Berlin. Warum knallt es dann nicht, wenn Politik auf Wirklichkeit trifft? Vielleicht, weil es zu schnell geht, um zu verstehen, was da vor sich geht. Kaum eine Minute dauert ein Besuch im Durchschnitt: "Guten Morgen", "Ach, wie nett", "Schönen Tag noch". Es ist ein Haustürgeschäft, wie früher, als der Staubsaugervertreter geklingelt hat.

64 Türen mit Peter Tauber, 68 Türen mit Hubertus Heil. Niemand haut den Generalsekretären die Tür vor der Nase zu. Keine Diskussion über Nebeneinkünfte, das Rentenprogramm oder sozialen Wohnungsbau. Bei Facebook hagelt es Hasskommentare, im Vorgarten viele Grüße. Ein Rentner in Ratingen sieht Peter Tauber, hält sich die Hand vor den Mund, und braucht ein paar Augenblicke, bis er sagt: "Sie sind ja der aus dem Fernsehen." Heiterkeit, ein Foto, dann muss Taubers Tross weiter. Die App braucht Daten.

Die CDU-App zeigt eine durchmischte Bilanz am Abend, die Potenzialanalyse war nicht ganz treffend. Neutrale Smileys reihen sich aneinander, die Gleichgültigen sind obenauf. Die SPD-Bilanz: Viele Menschen, die sich bei Hubertus Heil für den Besuch bedanken, ein zufriedener Generalsekretär, und ein Mann in Unterhose, der sagt: "Meine Stimme haben Sie."

(her)
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