Unterwegs mit einer SPD-Kandidatin in Bützow Die mühsame Suche nach dem Wähler

Sie ist der Martin Schulz der mecklenburgischen Seenplatte: SPD-Kandidatin Jeannine Pflugradt. Mit einer chancenlosen Sozialdemokratin unterwegs im größten Flächenwahlkreis Deutschlands.

 Die SPD-Abgeordnete Jeannine Pflugradt (44) kämpft am Wahlstand in Güstrow für ihren Verbleib im Bundestag - bei Wind und Wetter.

Die SPD-Abgeordnete Jeannine Pflugradt (44) kämpft am Wahlstand in Güstrow für ihren Verbleib im Bundestag - bei Wind und Wetter.

Foto: Mayntz

Die Wählerin ist wütend. Sie kocht innerlich, nachdem die Politikerin sie an diesem Morgen neben dem Landputen-Verkaufswagen auf dem Marktplatz von Bützow angesprochen hat. "Schauen Sie sich doch um: Alle weg!", sagt sie mit Zorn in der Stimme. Und dann noch mal mit Nachdruck auf jeder einzelnen Silbe: "Un-se-re gan-ze Ju-gend ist weg!" Jeannine Pflugradt (44) kann ihr nur zustimmen. Die SPD-Abgeordnete weiß, was das Wegziehen aus der Region für das Zusammenleben der Bleibenden, für die Stimmung unter den Menschen und die Dimension ihres Wahlkreises bedeutet.

Weil so viele gegangen sind, wurde er der größte Deutschlands: 6250 Quadratkilometer Mecklenburgische Seenplatte und Mecklenburgische Schweiz mussten zusammengenommen werden, um den Standard von jeweils rund 250.000 deutschen Einwohnern zu erreichen. Die verteilen sich nun in einem einzigen Wahlkreis auf eine Fläche von der zweieinhalbfachen Größe des Saarlandes.

Es gibt Beschimpfungen, Vorurteile und Desinteresse

Das führt dazu, dass die Politiker lange nach jeder einzelnen Stimme suchen müssen. Rund 10.000 Kilometer, schätzt die Neustrelitzer Sozialdemokratin, hat sie in diesem Wahlkampfjahr schon zurückgelegt. Was ihre Kollegin in Berlin-Mitte zu Fuß oder mit dem Fahrrad schafft, dauert bei ihr schon mal zweieinhalb Autostunden: die Anreise zum ersten Termin. Drei weitere werden an diesem Tag folgen. Ihr werden dabei Kritik, Neid und Misstrauen begegnen. Es wird Beschimpfungen, Vorurteile und demonstratives Desinteresse geben. Und viele Phasen des Wartens, in denen einfach keiner vorbeikommt.

Bundestagswahl 2017: Die mühsame Suche nach dem Wähler
Foto: Zörner

"Guten Tag, ich kandidiere für den Deutschen Bundestag für die SPD", lautet die Anrede bei ausgestreckter Hand. "Oh, Sie haben aber kalte Finger", ist eine Antwort. Wahlkampf im ostdeutschen Spätsommer, das kann auch kalt und nass sein. So wie am Mittag in Güstrow, als es plötzlich wie aus Eimern schüttet und Pflugradt unter dem SPD-Sonnenschirm nicht wirklich Schutz findet, während sich rund um ihre Schuhe der Marktplatz in eine weitere Seenplatte verwandelt.

Gerade erst hatte sich eine Passantin breitbeinig vor ihr aufgebaut und ihr die riesigen Diäten vorgehalten. Pflugradt hält es mit Transparenz und will Einkünfte und Ausgaben schildern. Die 1500 Euro monatlich für die Bürgerbüros in Güstrow und Neustrelitz bezweifelt die Bürgerin, und kurz darauf zweifelt auch die Abgeordnete, ob sie ihr überhaupt noch zuhört. Vorurteile vor den Latz knallen und dann zügig weitergehen: Auch das ist Straßenwahlkampf 2017 in Ostdeutschland. "Jede Glaubwürdigkeit" habe die Sozialdemokratie verloren, heißt es da. Und: "Ihr führt auch noch die Rente mit 70 ein!" Pflugradt ringt sichtlich um Fassung. "Genau dagegen kämpfe ich doch!", ruft sie dem Mann hinterher, der kopfschüttelnd den Stand verlässt.

Ein kleiner Lichtblick inmitten großer Tristesse

Die Jusos haben die große, schicke Stellwand mit dem Slogan "Zeit für mehr soziale Gerechtigkeit" zur Halbzeit schon wieder auseinandergebaut. Die SPD-Gerechtigkeit ist nicht wasserfest. Die Bierflaschen mit der "Storchenbräu"-Spezialabfüllung können indes den Regen ab. Es ist die Kampagne der Jungsozialisten gegen die Rechten. Mit der Kunstfigur "Storch Heinar" persiflieren sie die Neonazi-Bekleidungsmarke "Thor Steinar". Aber nur wenige Unbeteiligte interessieren sich dafür.

Mag sein, dass sich in der ländlichen Region mit wenigen Menschen viele persönlich kennen. Aber es fällt schon auf, dass an den Wahlkampfständen vor allem Freunde und Bekannte und Bekannte von Verwandten zum freundlichen Smalltalk verweilen. Und Grüße bestellen: Eine hat schon per Brief gewählt. "Natürlich dich, du hast sie überzeugt." Jeannine Pflugradt lächelt. Ein kleiner Lichtblick inmitten großer Tristesse.

Denn Pflugradts Wiedereinzug in den Bundestag ist genauso wahrscheinlich wie die Kanzlerschaft von Martin Schulz. Der einflussreiche örtliche CDU-Konkurrent Eckhardt Rehberg hat nicht nur die größeren Plakate, er hat auch beim letzten Mal mit großem Vorsprung gewonnen. Pflugradt zog wider Erwarten über die Landesliste ein, weil ausnahmsweise auch Platz drei noch zog. Nun ist sie auf Platz fünf. Da müssten landesweit noch viele Stimmen kommen, damit es wieder reicht. Doch Pflugradt hat für ihre Mitstreiter neue Zahlen über die Umfragewerte im Land mitgebracht. Sie sind desaströs: Nur noch 16 Prozent für die SPD, dafür 22 für die Linken und 32 für die CDU.

Eine wie sie gibt sich erst auf der Ziellinie geschlagen

Die Bützower Sozialdemokraten nennen es ein "unerklärliches Phänomen". Im Bund viele SPD-Kernanliegen erfolgreich durchgesetzt, aber es wird daraus kein Trend für die SPD. Und im Land frischer Wind mit einer beliebten SPD-Ministerpräsidentin, aber auch das schlägt sich bei den SPD-Werten nicht nieder. Selbst wer der Direktkandidatin alles Gute wünscht, vergisst meist nicht, ein skeptisches Wort gegenüber Martin Schulz dranzuhängen.

Pflugradt ist seit der Abschiedsstimmung in der letzten Fraktionssitzung darauf gefasst, nach dem 24. September in Berlin ihre Sachen packen und die beiden Bürgerbüros im Wahlkreis wieder dichtmachen zu müssen. Aber sie gibt sich entschlossen, den deprimierenden Rahmenbedingungen nicht zu erliegen. "Ich bin Sportsfrau durch und durch", erzählt sie. Und sie meint damit: Eine wie sie gibt sich erst auf der Ziellinie geschlagen, bereitet demonstrativ die Feier für den Wahlabend vor. Die bis zu einer Rücken-OP begeisterte Leichtathletin ("alles ab 400 Meter und besonders gern der Hürdenlauf") will auch in der Schlussphase noch mal alles geben. "Da sind so viele, die auf mich zählen", sagt sie und blickt in die Runde. Entschiedenes Kopfnicken.

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Mangelndes Selbstbewusstsein hat sie sich auch für die zurückliegenden vier Jahre in der Bundespolitik nicht vorzuwerfen. Sie, die als Sekretärin bei den Stadtwerken arbeitete und seit vielen Jahren Fraktionsvorsitzende im Stadtrat von Neustrelitz ist, wagte nicht nur beim Griechenland-Paket gegen die eigene Koalition zu stimmen, sondern auch bei der Entscheidung über den Bundeswehreinsatz in Syrien. Sie fragte vorher im Newsletter nach Meinungen ihrer Anhänger — und stellte sich dann umso überzeugter quer, weil sie mit ihrer Position nicht alleine war.

Für zu kurz hält sie die Wahlperiode. Fünf Jahre wären viel besser, weil gerade Neulinge eine Zeit für die Einarbeitung bräuchten und die Vorgänge ohnehin sehr viel langwieriger abliefen, als man es von außen vermute. Und wenn sie es doch noch einmal schaffen sollte, will sie daran arbeiten, dass die Parlamentarier viel früher in das Entstehen von Gesetzentwürfen eingeschaltet werden.

Das Gesparte geht in den Wahlkampf

All die Erfahrung aus vier Jahren ist nun am Stand reduziert auf Kugelschreiber, Streichhölzer, Flaschenöffner und Gummibärchen. Das interessiert manche. Und einige versichern mit der Tüte in der Hand, sie würden sich den beigelegten Flyer auch mal anschauen. Dann huscht ein Anflug von Hoffnung über Pflugradts Gesicht. Bis der Nächste es ablehnt, überhaupt von ihr angesprochen zu werden.

Das hat aber keine Auswirkungen auf ihren Elan. Über Jahre hat sie mit Einverständnis ihrer Familie 40.000 Euro privat gespart, die sie jetzt in den persönlichen Wahlkampf steckt. Es gebe zwar auch Unterstützung von der Landes- und der Bundespartei. Aber das reiche bei Weitem nicht. Schon gar nicht in einem solch riesigen Wahlkreis. 3500 Plakate haben ihre Helfer aufgehängt, viele davon hat sie selbst mit festgezurrt. Dazu 25 Großplakate. Ehemann Holger wurde zum persönlichen Wahlkampfleiter.

Bei der Eröffnung einer Anne-Frank-Ausstellung in der Alten Synagoge im rund 20 Kilometer entfernten Krakow am See will Pflugradt das letzte Zeichen des Tages setzen. Vorher sind zwei weitere Stunden Straßenwahlkampf vorgesehen. Auf der Suche nach einem günstigen Standort ist ihr Büro auf den Edeka-Parkplatz am Bahnhof gekommen.

In einer menschenarmen Region offenbar ein naheliegender Gedanke — Grüne und CDU sind auch schon da. Die Kontrahenten begrüßen sich freundlich. Dann kommt es zum Tütentausch ihrer Werbematerialien. Neugierig betrachten die Wahlkampfhelfer ihre Ausbeute. Die CDUler haben nun zehn Argumente für eine starke SPD. Und die SPDler 50 Gramm Makrele - die Fischdose ziert ein Konterfei des CDU-Kandidaten.

(may-)
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