Bericht eines Wahlhelfers Wahlfälschung? Wie das denn?

Kerken · Was passiert eigentlich hinter den Kulissen eines Wahllokals – und wie anfällig ist das System für Betrugsversuche? Unser Autor war erstmals als Wahlhelfer im Einsatz. Ein Erfahrungsbericht aus den Papierbergen.

Bundestagswahl 2017: Erfahrungsbericht eines Wahlhelfers
Foto: dpa, tha gfh

Was passiert eigentlich hinter den Kulissen eines Wahllokals — und wie anfällig ist das System für Betrugsversuche? Unser Autor war erstmals als Wahlhelfer im Einsatz. Ein Erfahrungsbericht aus den Papierbergen.

Die erste Überraschung lauert an der Tür zum Wahllokal: Davon, dass wir Wahlhelfer die Wähler sogar mit Pommes und Würstchen locken würden, war beim Info-Abend für alle "Neuen" vor ein paar Tagen nicht die Rede gewesen. Tun wir dann aber auch nicht. Wie sich schnell herausstellt, gehören die Griller quasi zum Rahmenprogramm eines sonntäglichen Konzerts in Kerken-Nieukerk. Und im direkt neben dem Konzertsaal liegenden Jugendtreff hatte man zuvor die Kickertische zur Seite geschoben, während auf dem Billardtisch mit grauen Sichtschutzwänden gleich vier Wahlkabinen entstanden. Dazu Tische und Stühle für uns, ein Wählerverzeichnis und 700 Wahlscheine sowie natürlich die Wahlurne — und fertig war Wahllokal 102.1, eines von acht der Gemeinde Kerken.

Wahllokale wie dieses waren es, die nach der NRW-Landtagswahl im Fokus der Aufmerksamkeit standen. Massiv sei man um Stimmen betrogen worden, behauptete ein AfD-Sprecher im Sommer. Tatsächlich wurden der Partei landesweit 2200 Stimmen zu wenig zugerechnet; in einem Mönchengladbacher Wahllokal etwa hatte jemand alle 37 abgegebenen Zweitstimmen für die AfD für ungültig erklärt. Schnell stand der Vorwurf absichtlichen Betrugs im Raum: Wird in den Wahllokalen etwa geschummelt? Das könne nur jemand behaupten, der noch nie selber Wahlhelfer war, schrieben viele Kommentatoren bei Facebook. Das möchte ich mir gern selber ansehen.

Gegen halb eins am Sonntag schneie ich also ins Kerkener Wahllokal, um die anderen ehrenamtlichen Kollegen abzulösen, die seit halb acht morgens den Bürgern den Wahlgang ermöglicht hatten. 289 von 642 hatten die Möglichkeit beim Schichtwechsel um 13 Uhr genutzt, 45 Prozent, eine normale bis gute Quote. Schriftleiter Hans erklärt mir noch mal, was meine Aufgabe als sein Stellvertreter ist, zu dem ich zu meinem eigenen Erstaunen bei meinem ersten Einsatz als Wahlhelfer bestimmt worden bin.

Es wird genau Buch geführt

Im Normalfall läuft es so: Die Wähler identifizieren sich beim Wahlvorsteher, meinem Kollegen Can, mit ihrer Wahlbenachrichtigung. Dieses Schreiben enthält auch die Nummer, mit dem sie im Wählerverzeichnis aufgeführt sind. Diese Einträge zu prüfen, ist mein Job. Can sagt zum Beispiel "157", ich stelle sicher, dass bei Wähler Nummer 157 kein "W" vermerkt ist. Die 183 entsprechend gekennzeichneten Personen hatten Briefwahlunterlagen beantragt. Deren (hoffentlich) ans Rathaus geschickten Wahlscheine werden gesondert ausgewertet. Aber mit "meinen" 353 noch fehlenden Männern und Frauen habe ich ohnehin genug zu tun. Wann immer ich einen finde, hake ich ihn ab — erst dann bekommt er von Can seinen Wahlschein.

Über die Zahl der so "eingenommenen" Wahlscheine führt Can kontinuierlich Buch, während Beisitzer Marius und ich je eine Strichliste führen. Dreifach parallel also halten wir die Zahl der abgegebenen Stimmen fest. Sicher ist sicher.

So weit, so überschaubar. Spannend wird es, wenn Wähler mal mehr, mal weniger reumütig ohne ihren Wahlschein auftauchen. Dann lässt sich Can ihren Ausweis zeigen und sagt mir die Postadresse an, die mich etwas langsamer zum selben Ergebnis führt: Dem passenden Eintrag im Wählerverzeichnis, der dann abgehakt wird. Anstatt des Wahlscheins archiviert Can dann jeweils einen Zettel mit der Nummer des Wählers, den ich anfertige, wobei ich mit meiner Unterschrift für die Richtigkeit des Vorgangs bürge.

Zwei Männer schicken wir weg

So ziehen sie an uns vorbei — Männer und Frauen, alt und jung, dick und dünn, mit Kindern und Krücken, Hunden und Rollatoren, mit weißen Ralph-Lauren-Pullovern und Flecktarnhosen, mit schicken Blusen und blau-gelben TSV-Nieukerk-Trainingsjacken, deutschen, türkischen, polnischen, indischen Namen.

Zwei schicken wir weg — einen Holländer, der witzelt, er wolle den Wahlschein mit den niederländischen Parteien, und einen jungen Mann, der nicht ganz so falsch ist, aber knapp vorbei ist eben auch daneben: Wir schicken ihn an die Grundschule zurück, von wo er gerade kam, allerdings aus dem falschen der beiden dort untergebrachten Wahllokale. Wir hoffen, er geht hin und gibt im dritten Anlauf seine Stimme ab, anstatt aufzugeben.

Neutralität ist unsere höchste Pflicht

 Es wird genau Buch geführt, alles geht mit rechten Dingen zu.

Es wird genau Buch geführt, alles geht mit rechten Dingen zu.

Foto: Tobias Jochheim

Kurz vor Schließung des Wahllokals, die 500 Wähler haben wir fast geknackt, stürmt einer herein und erzählt, er habe eigens den Besuch bei seinem Vater an der Ostsee früher abgebrochen. "Mehr als 500 Kilometer bin ich gefahren, damit ich heute wählen kann. Um das Schlimmste zu verhindern…" Was er für das Schlimmste hält, sagt er nicht, und wir fragen nicht nach. Neutralität ist unsere höchste Pflicht. Besonders deutlich wird das nach 18 Uhr: Die vier Kollegen aus der Frühschicht sind wieder zu uns gestoßen, Bastian schiebt den schweren Aschenbecher, der die Tür des Wahllokals offen gehalten hatte, wieder an seinen Platz.

Jeder Bürger, der wollte, könnte uns bei der Auszählung auf die Finger schauen, aber niemand will. Vor allem natürlich, weil die große Mehrheit überzeugt ist, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Dass ihre Nachbarn, Freunde, Vereinskameraden ihr Ehrenamt erst nehmen. Auch nach dieser Wahl werden wohl trotzdem Gerüchte über systematische Wahlfälschung kursieren — in die Welt gesetzt von denselben Leuten, die sich mit eigenen Augen überzeugen könnten, dass nichts dran ist, nichts dran sein kann, weil für jede heimlich — aus welchem Grund aus immer — unterschlagene Stimme anderswo eine dazugeschummelt werden müsste. Innerhalb der meist sieben Mann starken Wahlhelfer-Teams, die zu jeder Wahl neu aus Freiwilligen gebildet und im Zweifel durch Beamte verstärkt werden.

Die Stimmzählung erscheint wie eine Herkulesaufgabe, als wir die Urne aufschließen und alle 510 Wahlzettel auf den abgedeckten Billardtisch schütten. Aber es funktioniert, mit System und Arbeitsteilung und dauernder gegenseitiger Kontrolle. Zuerst sortieren wir die 351 Wahlzettel, deren Absender ihre Erst- und Zweitstimme derselben Partei gegeben haben. Die restlichen 159 sortieren wir zweimal — erst nach Zweit- und später nach Erststimme. Alles stets in Zehnerpäckchen.

Keine Stimme zu viel, keine zu wenig

Nachdem wir alle so entstandenen Stapel mehrmals durchgezählt haben, fragt Schriftführer Hans routiniert die Zwischenergebnisse ab. Und das kleine Wunder passiert: Alle Summen aller Teilzählungen stimmen, nirgendwo ist eine Stimme zu viel, nirgendwo eine zu wenig. Schon um 18.47 Uhr geben wir die sogenannte Schnellmeldung per Telefon durch — die Endsumme aller Erst- und Zweitstimmen. Eine halbe Stunde später sind auch die Wahlniederschrift penibel ausgefüllt sowie alle Stimmzettel sortiert und versiegelt in einem Koffer auf dem Weg ins Rathaus. Alles ist mit rechten Dingen zugegangen, in konzentrierter Atmosphäre.

Wer daran zweifelt, ist herzlich eingeladen, sich selbst einmal als Wahlhelfer zu melden. Bedarf ist immer. Und jeder Demokrat wird zustimmen: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

(tojo)
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