Interview mit Jörg Vollmer "Eine Vollausstattung des Heeres ist unrealistisch"

Munster · Der Bundeswehr-General Jörg Vollmer kritisiert die Materiallage, erwartet aber Verbesserungen. Der Ukraine-Konflikt sorge für rasante politische Entscheidungen.

Bundeswehr-Übung in Niedersachsen
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Foto: Helmut Michelis

In spektakulären Vorführungen hat sich bei der jährlichen "Informationslehrübung" in der Lüneburger Heide ein modernes, schlagkräftiges Heer präsentiert — ein Bild, das so gar nicht zu passt zu den vielen Mängelberichten, die in den letzten Monaten aus der Bundeswehr zu hören waren. Generalleutnant Jörg Vollmer (58), seit Juli Inspekteur des Heeres und damit dessen ranghöchster Soldat, löst diesen scheinbaren Widerspruch auf.

Herr General, wo steht das Heer zurzeit tatsächlich?

Jörg Vollmer Die Informationslehrübung dient dazu, unserem Führungsnachwuchs, insbesondere den Offizieranwärtern und den Generalstabsoffizieren, die Fähigkeiten des Heeres, der Streitkräftebasis und des Zentralen Sanitätsdienstes in der Praxis zu zeigen. Diese Bandbreite geht über das hinaus, was jeder ILÜ-Teilnehmer in seiner eigenen Truppengattung im täglichen Arbeitsumfeld erlebt. Hier wird ein Gesamtüberblick vermittelt von dem, was alles ineinandergreifen muss, um unseren Auftrag erfolgreich durchzuführen. Denn nur wenn ich die Fähigkeiten des Systems Landstreitkräfte kenne, kann ich meinen Beitrag dazu einbringen. Das ändert allerdings nichts daran, dass wir in einigen Bereichen noch nicht da sind, wo wir eigentlich sein müssten. Die unbefriedigende Materiallage gehört sicherlich dazu.

Was meinen Sie mit "unbefriedigend"?

Vollmer Früher war unausgesprochen der Afghanistan-Einsatz bestimmend, für den große Kontingente von jeweils 5000 Mann gestellt werden mussten. Dabei hatten wir festgestellt: Es sind immer nur 70 Prozent des Heeres einsatzbereit, der Rest befindet sich in der Ausbildung, im Urlaub oder war anderweitig abwesend, z.B. in der Elternzeit. Mit dem damaligen Haushaltsrahmen war klar: Wir können es uns nicht leisten, alle Strukturen mit Material komplett zu hinterlegen. So sind entsprechend auch nur 70 Prozent des Großgeräts vorhanden und muss zwischen den Verbänden immer hin- und hergeschoben werden, je nach Auftrag oder Ausbildungsvorhaben... Durch die aktuelle sicherheitspolitische Lage wird der Schwerpunkt mehr auf die Landes- und Bündnisverteidigung gelegt. Das bedeutet, dass ein Truppenteil sehr wohl sein Material vollzählig haben muss.

Wie läuft der Weg zurück in die Vollausstattung?

Vollmer Wir wollen bewusst nicht von der Vollausstattung reden, da wir — realistisch betrachtet - die hundert Prozent nicht erreichen werden. Wir werden aber eine Ausrüstung bekommen, die sich an unseren Strukturen und Aufträgen orientiert. Je nach Auftragslage benötigen wir beispielsweise das volle Spektrum an gepanzerten, geschützten und ungepanzerten Fahrzeugen. Da wir nicht von jetzt auf gleich unser Material auffüllen und nicht Zehntausende von Fahrzeugen schlagartig umrüsten können, wird dieser Prozess noch einige Zeit dauern. Aber mittelfristig werden wir das bekommen, was wir brauchen. Das hat erfreulicherweise auch breite politische Akzeptanz. Und bis dahin müssen wir unsere Aufträge mit dem erfüllen, was wir tatsächlich verfügbar haben.

Was geschieht konkret?

Vollmer Es sind ja bereits einzelne Entscheidungen gefallen. Wir bekommen zum Beispiel 100 weitere Kampfpanzer "Leopard", die uns befähigen, alle unsere Panzerbataillone wieder vollumfänglich auszustatten. Mit der Kaufentscheidung von 131 "Boxer"-Gruppenfahrzeugen wird nun auch die Infanterie zu 100 Prozent ausgestattet. Doch insgesamt betrachtet gibt es auch noch in anderen Bereichen Defizite, beispielsweise bei Nachtsichtgeräten, wo deutlich nachgesteuert werden muss. Auch beim System "Infanterist der Zukunft", der modernen persönlichen Gefechtsausrüstung von der Bekleidung bis zur Optronik, haben wir Handlungsbedarf. Diese Ausstattung brauchen wir flächendeckend. Unsere Forderung ist: In den kommenden Jahren muss jeder Verband so ausgerüstet sein, dass er einen Auftrag mit dem eigenen Material erfüllen kann.

Der Ukraine-Konflikt und das Säbelrasseln des russischen Präsidenten haben dafür gesorgt, dass die Landes- und Bündnisverteidigung wieder in den Vordergrund gerückt ist. Passt die heutige Ausstattung und Ausbildung auch auf diese neue Aufgabe?

Vollmer Zuerst: Als Bundeswehr und insbesondere als Heer zeigen wir unseren Bündnispartnern, dass sie sich auf uns verlassen können. Wir stehen als zuverlässiger Bündnispartner gemeinsam ein für das NATO-Gebiet. Abhängig von der Lage werden wir das Material und Personal zusammenstellen, was wir brauchen. Wir werden keine Strukturen verändern, zum Beispiel eine Brigade nur mit Radfahrzeugen aufstellen, damit sie beweglicher wird. Nein, die Struktur ist gut. Es geht auch nicht darum, ob wir die richtigen Fahrzeuge haben. Die besitzen wir. Es geht um die Frage der ausreichenden Anzahl. Daran wird gearbeitet.

Wo liegt Ihr Schwerpunkt?

Vollmer Wir brauchen schnelle Kräfte, die als erste zu Verfügung stehen. Wir erproben derzeit die von der Nato geforderte schnelle Eingreiftruppe mit sehr hoher Einsatzbereitschaft, die Very High Readiness Joint Task Force, gegenwärtig mit einem Panzergrenadierbataillon. Da haben wir in der kurzen Zeit viel gelernt. Gerade für einen solchen Auftrag muss ein Verband voll ausgestattet sein. Bisher musste teilweise Material aus dem gesamten Heer dafür kurzfristig herangeschafft werden.

Was bedeutet das, und wann wird es spruchreif?

Vollmer Beim nächsten Nato-Gipfel in Warschau soll es darum gehen, in welchem Umfang wir künftig beweglicher werden müssen und somit unsere Reaktionsfähigkeit erhöhen. Dies ist auch ein klares Bekenntnis zur Landes- und Bündnisverteidigung. Dazu gehört auch die neue Rolle des Multinationalen Korps Nordost in Stettin, das in nur sehr kurzer Zeit eine völlig neue Struktur bekommen und sich in der Anzahl der Dienstposten fast verdoppelt hat. Normalerweise dauert das Wochen und Monate. Jetzt sind bereits alle am Platz.

Und das funktioniert?

Vollmer Ja. Damit einher geht auch die Aufstellung von NATO-Verbindungsstäben, die in den drei baltischen Staaten, außerdem auch in Rumänien und Ungarn ebenfalls in Rekordzeit ihre Arbeit aufgenommen haben. Mit der jeweiligen Gastnation planen sie beispielsweise die Sammelräume der Verstärkungen aus oder die Einlagerung von Munition, Wasser oder Betriebsstoff. Weiterhin gehört zum Schutz der Nato-Ostflanke die große Anzahl von Übungen, in denen das Deutsche Heer überall eingebunden und oft der größte Truppensteller ist. Ergänzend dazu werden Truppenteile für zwei bis vier Monate dort stationiert, zurzeit Teile des Panzergrenadierbataillons 391 aus Bad Salzungen in Lettland, demnächst eine Einheit der 1. deutschen Panzerdivision in Polen. Das verstetigt sich auch in den nächsten Jahren. Dazu muss man bewertend sagen: Das geht rasend schnell und wird das Deutsche Heer in den kommenden Jahren besonders fordern.

Bedeutet das, dass zur schnellen Reaktion deutsche Gefechtsfahrzeuge bereits in Depots in Polen, Ungarn, Rumänien oder im Baltikum gelagert werden müssen?

Vollmer Über Munition und Betriebsstoff muss man sprechen. Aber was die Fahrzeuge angeht, eindeutig nein. Es wird immer so sein, dass wir das Material bei den Truppenteilen in der Heimat haben, denn sie müssen ja damit üben. Im Alarmierungsfall würden sie auf der Straße, per Eisenbahn oder Schiff und in limitierter Zahl auch durch die Luft transportiert werden. Wir wissen doch gar nicht, wo es hingeht. Zurzeit haben wir den Blickwinkel auf die Unterstützung der östlichen Nato-Partner verengt. Aber die besonders schnelle Eingreiftruppe hat einen 360-Grad-Radius, gegebenenfalls auch zur Verstärkung unserer südlichen Nato-Partner.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat eine militärische Unterstützung der Türkei ins Spiel gebracht...

Vollmer Ich bin als Inspekteur des Heeres dafür verantwortlich, einsatzfähige Verbände bereitzuhalten. Wo sie eingesetzt werden, entscheidet die Politik.

Was ist dran an den Berichten über ein Radfahrzeug "Boxer" mit einer Schnellfeuerkanone im Turm für die künftige schnelle Eingreifbrigade?

Vollmer Es ist ein Angebot der Industrie, das von dieser derzeit erprobt wird. Das steht für die Bundeswehr aber nicht zur Debatte. Was wirklich wichtig ist: Ich will keine Diskussion haben, wie wir sie vor 15 Jahren geführt haben: Das Heer in leichte, mittlere und schwere Kräfte zu unterteilen. Jeder Auftrag ist anders. Dazu werden die Kampfeinheiten jeweils passend zusammengestellt, wir regeln dies über die sogenannte Truppeneinteilung. Jede Brigade ist in der Lage, für den konkreten Auftrag geeignete Kräftepakete zu schnüren.

Begrüßen Sie das Aus für das Gewehr G 36?

Vollmer Das Gewehr hat in den Labortests sowohl bei hoher Schießbelastung als auch bei Hitzeeinwirkung Schwächen gezeigt. Deswegen war die Entscheidung konsequent. Wir sind nun beauftragt, die Anforderungen, die wir an ein neues Sturmgewehr haben, zu beschreiben. Nach mehr als 20 Jahren werden wir das G 36 nach der aktuellen Planung ab 2019 Schritt für Schritt ersetzen. Wenn wir uns an die Regeln halten, wie diese Waffe einzusetzen ist und unverändert unseren bewahrten Waffenmix nutzen, dann können wir auch bis dahin unsere Aufträge mit dem G36 erfolgreich weiter erfüllen.

Der Afghanistan-Einsatz ist im Bewusstsein der Bevölkerung fälschlich abgeschlossen. Tatsächlich sind aber viele Heeressoldaten zurzeit im Auslandseinsatz. Sind das vergessene "Außenposten"?

Vollmer Wir haben gute Arbeit geleistet zur Durchsetzung der Sicherheit in unserem Verantwortungsraum und in der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte. Kämpfen können sie. Wir müssen uns davor hüten, aus den aktuellen Vorgängen — unter anderem in Kundus — gleich den Schluss zu ziehen, die afghanischen Sicherheitskräfte beherrschten die Lage nicht. Ich kann auch nicht in der Glaskugel lesen. Insgesamt haben sie die Kräfte, die sie für die Sicherung und Stabilisierung ihres Landes brauchen. Aber wir sollten sie weiterhin beraten. Ich persönlich würde es sehr begrüßen, wenn es zu einer politischen Entscheidung käme, die Afghanen noch ein Stück länger zu begleiten. Die Menschen vor Ort würden sich sehr darüber freuen. Wir bilden die Korsettstangen für die Sicherheit des Landes. Also ist es ein großer Unterschied, ob wir noch da sind oder gehen.

Welchen Stand hat die von der Verteidigungsministerin forcierte internationale Verzahnung, zum Beispiel die gegenseitige Unterstellung von Kampftruppen? Ist das die Zukunft?

Vollmer Die Zusammenarbeit war schon immer sehr eng, vor allem mit den Niederländern. Das gegenseitige Vertrauen hat es möglich gemacht, die niederländische 11. Luchtmobiele Brigade der Division Schnelle Kräfte in Stadtallendorf zu unterstellen und jetzt im Rahmen der 1. deutschen Panzerdivision ein neues Bataillon mit einer niederländischen Kompanie zu bilden, das wiederum der niederländischen 43. Brigade unterstellt wird — dies ist wirklich vertiefte Integration. Sie läuft geräuschlos und reibungslos, ein tolles Arbeiten.

Ist das auch mit anderen Staaten vorstellbar?

Vollmer Die Zusammenarbeit mit den Niederlanden ist so eine Art Blaupause, zum Beispiel für die Kooperation mit Polen. Wir haben soeben die Grobplanung abgeschlossen, um ein deutsches Panzergrenadierbataillon einer polnischen Brigade und ein polnisches "Leopard"-2-Panzerbataillon einer Bundeswehr-Brigade zu unterstellen. Das macht die Integration sichtbar. Wir werden außerdem deutlich mehr deutsche Offiziere in polnische Ausbildungsbildungseinrichtungen entsenden und umgekehrt. Das werden wir zügig umsetzen, so dass in spätestens zehn bis 15 Jahren eine Generation herangewachsen ist, die schon immer ganz selbstverständlich eng zusammen-gearbeitet hat.

"Heer" — das klingt nach Technik, Dreck, Männerschweiß. Wie sehen Sie die Rolle von Soldatinnen im Heer? Gibt es die überhaupt in nennenswerter Zahl?

Vollmer Die reine Zahl ist leider immer noch relativ niedrig, der Frauenanteil beträgt im gesamten Heer nur 5,7 Prozent. Aber das hängt sehr vom Truppenteil ab. In Fernmeldebataillonen oder in der Logistik ist der Anteil von Soldatinnen deutlich höher. Jeder Bewerber kann sich seinen Interessen und Neigungen folgend in ein Arbeitsumfeld einbringen, in dem er sich verwirklichen kann und das ihm Freude macht. Eines meiner Patenkinder studiert übrigens zurzeit bei der Bundeswehr Medizin und will Truppenärztin werden. Die Türen sind geöffnet. Frauen sind uns herzlich willkommen.

Wie ist die Nachwuchslage, auch mit Blick auf die Qualität der Bewerber? War die Aussetzung der Wehrpflicht aus heutiger Sicht vorschnell? Gibt es noch ausreichend Reserven?

Vollmer Wir stehen im Heer gut da. Wir haben bei Offizieren unverändert eine Quote von sieben Bewerbern auf eine Stelle, bei Unteroffizieren herrscht ebenfalls fast kein Nachwuchsmangel. Bei den Mannschaften sieht es ähnlich aus. Sie haben zurzeit eine durchschnittliche Dienstzeit von achteinhalb Jahren, die wir in den nächsten zwei Jahren anheben werden auf zehneinhalb Jahre. Insgesamt passt das. Aber natürlich gibt es Bereiche, wo wir Sorgen haben, beispielsweise bei der Informationstechnologie und Berufsgruppen, bei denen wir naturgemäß stark mit der zivilen Wirtschaft konkurrieren. Es ist regional schwankend: Wo es zum Beispiel eine niedrige Arbeitslosigkeit gibt, wird es schwieriger. Keine Probleme haben wir bei der Panzergrenadierbrigade 37 in Sachsen und Thüringen, bei der Luftlandebrigade 1 im Saarland oder im Bereich der Panzerbrigade 21, die in Ostwestfalen-Lippe stationiert ist.

In NRW soll sogar erstmals seit Jahrzehnten wieder ein neues Bataillon aufgestellt werden. Wann geschieht das?

Vollmer Das läuft. Im Sommer hat die Aufstellung des Aufklärungsbataillons 7 in Ahlen begonnen, im nächsten Jahr wird es einsatzbereit sein.

Wie steht es um die Einsatzreife des neuen Schützenpanzers "Puma", was geschieht mit den alten "Mardern"?

Vollmer Wir werden in den nächsten Jahren noch vier Bataillone mit "Mardern" einsatzbereit behalten, weil es dauert, bis der "Puma" voll einsatzbereit ist. Bei der Anbindung des Systems "Infanterist der Zukunft" an dieses Fahrzeug muss die Industrie allerdings noch nacharbeiten. Wir werden die "Marder"-Bataillone erst dann außer Dienst stellen, wenn das erste "Puma"-Bataillon voll einsatzbereit ist. Das wird nicht von heute auf morgen geschehen, wir sprechen über ein Zeitfenster von etwa acht bis zehn Jahren.

Wo liegt die besondere Herausforderung für das deutsche Heer in den kommenden Jahren?

Vollmer Wir werden unverändert in die Einsätze in Afghanistan, im Kosovo und in Mali sowie die Ausbildung von kurdischen Peschmerga im Irak eingebunden sein - ohne Abstriche. Die Belastung wird sich nicht reduzieren, im Gegenteil. Es kommen ja gleichzeitig die neuen Aufträge im Rahmen der Nato-Bündnisverteidigung hinzu. Und natürlich helfen wir darüber hinaus auch im Rahmen der Flüchtlingshilfe, jeweils vor Ort und beim Bundesamt für Migration. Unsere Soldaten sind da der ruhende Pol, darauf bin ich sehr stolz. Sie bringen durch ihre Einsätze, ob in Afghanistan oder im Kosovo, viel interkulturelle Erfahrung mit, das ist schon beeindruckend.

Wir haben gute Strukturen und motivierte Soldatinnen und Soldaten. Fast alle Dienstposten sind besetzt. Mannschaften dienen nicht mehr nur 15 Monate wie früher, sondern haben Berufs- und Einsatzerfahrung. Dadurch können wir viel schneller reagieren. Darum sage ich: Es war eine gute Entscheidung, die Wehrpflicht auszusetzen. Es hat uns deutlich professioneller gemacht.

HELMUT MICHELIS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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