Cem Özdemir im Interview "Beitrags-Zuschuss für Geringverdiener"

Berlin · Grünen-Chef Cem Özdemir spricht im Interview mit unserer Redaktion über den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor, die Auflösung des Steuerstreits in seiner Partei und neue staatliche Zuschüsse zu den Sozialbeiträgen von Geringverdienern.

 Cem Özdemir sprach im Interview mit unserer Redaktion unter anderem über das Ehegattensplitting.

Cem Özdemir sprach im Interview mit unserer Redaktion unter anderem über das Ehegattensplitting.

Foto: dpa, mkx nic

Herr Özdemir, die vielen Steuererhöhungswünsche Ihrer Partei gelten als ein Grund für das schlechte Abschneiden bei der letzten Bundestagswahl 2013. Nun wollen die Grünen eine Vermögensteuer einführen. Drohen die Grünen die Fehler von 2013 zu wiederholen?

Özdemir (lacht) Nein, wir haben sehr wohl unsere Lehren aus der letzten Bundestagswahl gezogen. Wir werden 2017 sicher keinen Steuerwahlkampf machen. Vorne müssen bei uns immer die Jahrhunderthemen Ökologie und Nachhaltigkeit stehen. Bei der sozialen Gerechtigkeit wollen wir uns besonders um die Gruppen kümmern, die in der großen Koalition keine Lobby haben. Also Alleinerziehende, Erwerbsgeminderte, Langzeitarbeitslose. Jede und jeder soll die Chance haben auf gute Bildung, eine gute Arbeit und keine Angst haben, dass die Rente nicht zum Leben reicht. Dafür brauchen wir auch mehr Investitionen in starke öffentliche Einrichtungen, auf die ja gerade Benachteiligte angewiesen sind. Ich ärgere mich darüber, dass das Thema Steuern den Fokus von diesen wichtigen Grünen Themen nimmt.

Wie könnte ein Kompromiss bei der Vermögensteuer aussehen?

Özdemir Ich finde, dass der bayerische Landesverband einen klugen Beschluss gefasst hat, den ich mir auch als Kompromiss für die Bundesebene gewünscht hätte. Die bayerischen Grünen haben sich klar zum Ziel bekannt, die reichsten ein Prozent der Bevölkerung mehr zum Gemeinwesen beitragen zu lassen. Gleichzeitig haben sie sich nicht auf eine Vermögensteuer oder eine reformierte Erbschaftsteuer festgelegt. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch aufpassen, dass wir nicht denselben Mittelstand, den wir als Partner für die ökologische Modernisierung der Wirtschaft brauchen, mit einer Substanzsteuer zu sehr belasten.

Wird das Wort "Vermögensteuer" im Parteitagsbeschluss stehen?

Özdemir Davon gehe ich aus. Es sollte deshalb auch niemand Hautausschlag bekommen. Ich finde es ja auch richtig, eine verfassungsfeste, ergiebige und umsetzbare Vermögensteuer nicht auszuschließen, aber sich auch nicht apodiktisch darauf festzulegen, um so einen gewissen Spielraum bei alternativen Maßnahmen zur Vermögensbesteuerung zu haben. Denn beim Ziel einer stärkeren Besteuerung sehr hoher Vermögen sind wir uns ja alle einig.

Was ist mit der Abschaffung des Ehegattensplittings? Hat das nicht auch viele Wähler 2013 abgeschreckt?

Özdemir Das Ehegattensplitting schafft den Anreiz, dass Frauen keine eigenständige Existenz aufbauen und deshalb im Alter sehr oft von Altersarmut betroffen sind. Wir wollen aber nicht durch die sofortige Abschaffung des Ehegattensplittings Menschen bestrafen, die auf der Basis des aktuellen Steuermodells geheiratet haben. Ich unterstütze den Vorschlag, das Ehegattensplitting ab einem Stichtag nur für neue Ehen zu streichen. Ich glaube, das sieht die Mehrheit der Delegierten auch so.

Falls Sie neben Katrin Göring-Eckardt Spitzenkandidat werden, spricht das für Schwarz-Grün nach der Bundestagswahl 2017?

Özdemir Nein. Das spricht für starke Grüne. Bei der Union sehe ich auch manche CDU-Landesverbände schon als ein Problem, genau so wie die CSU. In der Sachsen-CDU gibt es Leute, die könnten auch bei der AfD sein. Wer sich mit den Grünen an den Kabinettstisch setzen will, muss wissen: Wer rechte Fanatiker in seinen Reihen duldet, wird mit uns nicht koalieren können. Da ist das Gespräch nach wenigen Sekunden beendet. Außerdem sind wir tief überzeugte Europäer. Das bedeutet, dass wir mit niemand zusammen gehen können, der keinen eindeutigen pro-europäischen Kurs fährt. Genau das sehe ich bei der Linkspartei derzeit leider nicht.

Warum ist es so wichtig, dass die Grünen ab 2017 mitregieren?

Özdemir Weil diese große Koalition keine Antworten auf die zentralen Herausforderungen unserer Gesellschaft hat. Das gilt für die Integrationspolitik genauso wie für den Klimaschutz. Alleine die Vorstellung, dass jemand von der CSU noch mal Verkehrsminister wird, bereitet mir körperliche Schmerzen. Qualifikation sollte künftig kein Hinderungsgrund mehr dafür sein, Bundesverkehrsminister zu werden. Ich möchte nicht zuschauen, wie die ganze Welt auf Elektromobilität umstellt und gleichzeitig Wolfsburg, Ingolstadt oder München zum Detroit von Deutschland werden.

Die Grünen wollen, dass ab 2030 in Deutschland keine Autos mehr mit Verbrennungsmotoren neu zugelassen werden. Wie erklären Sie dem Normalbürger, dass er ab 2030 nur noch ein teures Elektroauto kaufen darf?

Özdemir Man kann nicht verdrängen, dass bis zu 80 Prozent der Biomasse an Insekten zwischen 1995 und 2014 aufgrund des übermäßigen Pestizideinsatzes in der Landwirtschaft bereits abgenommen hat. Erinnern Sie sich daran, wie viele Insekten früher nach der Urlaubsfahrt auf der Windschutzscheibe klebten? Die gibt es heute alle nicht mehr. Wollen wir wirklich künftig einen stummen Frühling ohne Lerchen und Haussperling? Wir sind die letzte Generation, die noch etwas dafür tun kann, dass der Klimawandel halbwegs moderat ausfällt, der Artenreichtum nicht der Vergangenheit angehört und Natur und Wirtschaft sich versöhnen.. Die Grünen sind die Partei, die da auf die Tube drücken muss. Wenn wir es nicht machen, macht es keiner.

Aber die Bürger nehmen es doch vor allem als neues Verbotsschild wahr: Die Grünen wollen mir mein Auto wegnehmen!

Özdemir Nein! Wir bekennen uns ausdrücklich zum Automobilstandort Deutschland. Aber es werden nach Lage der Dinge ab 2030 nur noch Autos gebaut werden können, die eine CO2-Emission von Null haben. Das Problem ist, dass es bisher ein Verhinderungskartell gab aus den Bossen der Automobilindustrie und deren verlängertem Arm bei Union, SPD und FDP. Die haben geglaubt, wir könnten noch 20 Jahre so weitermachen wie bisher. Ich nenne sie die Nokia-Strategen. Wenn wir auf sie hören, geht es Daimler, VW, BMW etc. so wie damals Nokia, die den nächsten Quantensprung verschlafen haben. Dass Daimler-Chef Dieter Zetsche zu uns auf den Parteitag kommt und nicht zu einer anderen Partei, zeigt, dass er begriffen hat, wo die Zukunft der deutschen Automobilindustrie und der deutschen Wirtschaft diskutiert wird. Wir erwarten einen selbstbewussten Gast, der auf eine selbstbewusste Partei treffen wird.

Wie positionieren sich die Grünen beim Top-Wahlkampfthema Rente?

Özdemir Wir müssen uns konzentrieren auf die, die im Alter in Not sind. Deshalb fordern wir eine Garantierente als unbürokratische Mindestalterssicherung für langjährig Versicherte und die Abschaffung der Rentenkürzung für Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen eine Erwerbsminderungsrente erhalten. Menschen, die länger arbeiten können und wollen, sollten wir die Möglichkeit dazu eröffnen.

Aber wie wollen Sie all die Mehrausgaben der Rentenkasse finanzieren?

Özdemir Ich bin für ein staatlich subventioniertes, neues Progressivlohn-Modell. Der Staat muss mit Zuschüssen zu den Sozialbeiträgen helfen, dass sich für mehr Menschen der Übergang vom Mini-Job zu einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis bis zu einer bestimmten Grenze — in einer Größenordnung zwischen 1000 und 2000 Euro im Monat — lohnt. Durch die Umwandlung von Minijobs in reguläre Arbeitsverhältnisse, eine bessere Entlohnung von Frauen und den Einbezug weiterer Gruppen wie etwa Abgeordneter und anderweitig nicht abgesicherter Selbstständiger wollen wir die Basis der gesetzlichen Rentenversicherung verbreitern.

Und darf das Rentenniveau weiter absinken?

Özdemir Wir bekommen ein Akzeptanzproblem bei der Rentenversicherung, wenn das derzeitige Rentenniveau weiter deutlich absinkt. Wir müssen das Rentenniveau vorher stabilisieren, gleichzeitig dürfen aber die Rentenbeiträge nicht durch die Decke gehen. Deshalb plädiere ich dafür, Leistungen wie die Mütterrente ab der nächsten Legislaturperiode aus Steuermitteln zu finanzieren und damit die Beitragszahlerinnen und —Zahler zu entlasten.

Das Gespräch führte Birgit Marschall.

(mar)
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