Interview mit Cem Özdemir "Wir brauchen einen deutsch-türkischen Fernsehsender"

Berlin · Der Grünen-Chef und Spitzenkandidat Cem Özdemir fordert im Interview mit unserer Redaktion einen Türkei-Pakt aller deutschen Parteien – und eine Geste des guten Willens von Ankara.

 Cem Özdemir sprach mit unserer Redaktion.

Cem Özdemir sprach mit unserer Redaktion.

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Der Grünen-Chef und Spitzenkandidat Cem Özdemir fordert im Interview mit unserer Redaktion einen Türkei-Pakt aller deutschen Parteien — und eine Geste des guten Willens von Ankara.

Cem Özdemir hat von seinem Bundestagsbüro aus einen schönen Blick auf die Rückseite des Reichstags. So kann der Grünen-Chef immer sehen, wer im Auto vorfährt — und wann die Debatten im Bundestag wirklich wichtig werden.

Herr Özdemir, Sie stehen unter Personenschutz und reisen aus Sicherheitsgründen nicht mehr in die Türkei. Wie sehr leiden Sie persönlich unter der Verschlechterung des deutsch-türkischen Verhältnisses?

Özdemir Der Journalist Deniz Yücel und viele meiner Freunde sitzen in der Türkei im Gefängnis. Verglichen mit dem, was sie erleiden, ist das, was mit mir geschieht, kaum der Rede wert. In der Türkei haben Polizei und Justiz die Seiten gewechselt: Sie dürfen nicht mehr für die Verteidigung des Rechtsstaats arbeiten, sondern nur noch für die Interessen eines Autokraten.

60 Prozent der 1,4 Millionen türkischen Wahlberechtigten in Deutschland unterstützen Erdogan. Wie wirkt sich das auf das deutsch-türkische Verhältnis aus?

Özdemir Zunächst: Viele Türkischstämmige, die gegen Erdogan sind, wählen in der Türkei nicht. Entweder weil sie deutsche Staatsbürger sind oder weil sie sich politisch hier zuhause fühlen. Wir sehen aber daran, dass es ein Fehler war, Kinder, die hier geboren wurden, nicht schon vor 20 Jahren als deutsche Staatsbürger anzuerkennen. Hätten wir sie eingebürgert, würden viele von ihnen heute nicht sagen: Erdogan ist mein Präsident.

Sie fordern die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft?

Özdemir Nein. Aber es ist ein schlechte Nachricht, wenn sich Menschen, die seit 40 Jahren in Deutschland leben, bei uns nicht einbürgern lassen wollen. Mein Ziel ist: Aus Ausländern Inländer zu machen, weil man von Inländer zu Inländer Probleme besser lösen kann und weiß, dass die Musik hier spielt und nicht in Ankara, Moskau oder sonst wo. Dafür ist die doppelte Staatsbürgerschaft ein Hilfsmittel, nicht mehr und nicht weniger. Ich fordere nicht, den Doppelpass abzuschaffen, sondern ihn irgendwann überflüssiger zu machen,

Wie wollen Sie die Deutschtürken dem Einfluss Erdogans hierzulande entziehen?

Özdemir Es wurde über Jahrzehnte versäumt, dafür zu sorgen, dass diejenigen, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, hier eine neue Heimat finden, und zwar auch politisch. Das rächt sich jetzt. Wir brauchen einen Türkei-Pakt zwischen allen Parteien: Innenpolitisch bedeutet das, Deutschtürken hier auch medial und kulturell zu integrieren, wir brauchen einen deutsch-türkischen Fernsehsender, eine Art deutsch-türkisches Arte. Der private Radiosender Metropol FM macht es schon jetzt vor: türkische Popmusik, die aber nicht zwischen Erdogan-Propaganda läuft, sondern neutrale Nachrichten mit Fokus auf Deutschland und der Türkei. Außenpolitisch heißt das, uns ehrlich zu machen: Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind Bedingungen für einen Beitritt in die EU. Die Verhandlungen zwischen Türkei und EU sollten deswegen da bleiben, wo sie sind: auf Eis.

Was ist mit den Auftritten türkischer Politiker in Deutschland?

Özdemir Zu einer Türkei-Strategie muss gehören, dass wir sagen: Ihr könnt hier auftreten, weil das unseren demokratischen Grundsätzen entspricht. Aber wir erwarten von der Türkei im Gegenzug eine Geste des guten Willens. Angesichts der Verhaftung von Deniz Yücel, aber auch von 150 türkischen Journalisten sowie Oppositionspolitikern und einer Behinderung ihrer Oppositionsrechte gäbe es viele gute Gelegenheiten für Gesten, die Frau Merkel und Herr Gabriel einfordern können.

War es richtig von Außenminister Gabriel, das Gespräch mit seinem türkischen Amtskollegen zu suchen?

Özdemir Wie in jeder Beziehung ist es richtig, das Gespräch zu suchen, wenn es knirscht. Mit einem Treffen auf Ministerebene ist es aber noch lange nicht getan. Das Problem geht viel tiefer als der Streit um die Wahlkampfauftritte. Zu lange hat die Bundesregierung weggeschaut, wenn es um Menschenrechtsverletzungen in der Türkei ging. Und zu lange hat die Bundesregierung nicht sehen wollen, dass Erdogan und seine Regierung die tiefe Spaltung der türkischen Gesellschaft in die türkische Community in Deutschland tragen. Wahlkampfauftritte sind nur ein kleiner Teil davon. Ich erwarte, dass die Spitzelvorwürfe an deutschen Moscheen und Schulen umgehend und umfassend ausgeräumt werden. Ab jetzt muss es darum gehen, die Köpfe und Herzen der Deutschtürken bei uns für Deutschland zu gewinnen. Schließlich werden die Probleme ihrer Kinder hier und nicht in der Türkei gelöst.

Ihre Partei steht aktuell nur bei 6,5 bis acht Prozent. Warum sollen die Menschen die Grünen wählen?

Özdemir Wenn man in der Bundesliga hinten steht, dann kämpft man sich langsam nach vorne. Wir stehen doch als einzige Partei für die Epochenaufgaben Klima- und Umweltschutz. Nehmen Sie die Mobilitätswende: Da geht es um die Rettung unseres Planeten, aber eben auch konkret um die Rettung von Zehntausenden Arbeitsplätzen im Autoland Deutschland. Wer in Wolfsburg, Stuttgart und Ingolstadt ins Bett gehen möchte, um am nächsten Tag vielleicht in Detroit aufzuwachen, ist bei der Konkurrenz vielleicht besser aufgehoben. Der Verbrennungsmotor ist eine geniale Erfindung, aber früher oder später kommt er ins Museum, weil wir in Zukunft elektrisch und emissionsfrei fahren müssen.

Aber damit gewinnen Sie doch den Wahlkampf nicht, eher verlieren Sie ihn.

Özdemir Abwarten. Wir alle wollen arbeiten, uns sicher, pünktlich, sauber, zuverlässig und bezahlbar bewegen und am liebsten ohne dabei die Umwelt zu zerstören. Nun, genau dies bieten wir an. Intelligente Mobilität vom E-bike und Elektroauto über Carsharing bis zu einer Bahn, die der Beute von CDU und SPD entzogen und den Nutzern zurückgegeben wird. Wenn ich aus dem Zug in den Bus steige, aufs Leihfahrrad oder ins geteilte Auto, soll all das mit einem Mobilpass komfortabel funktionieren. Und es wird Zeit, dass Bahn und ÖPNV endlich mit einem Deutschland-Takt besser aufeinander abgestimmt wird.

Die Grünen wollen einen Schwerpunkt im Wahlprogramm auf Familien legen und Milliardenprogramme auflegen. Was bieten Sie konkret?

Özdemir Kinder sollen sozial abgesichert sein, unabhängig davon, wie viel ihre Eltern verdienen. Unsere Familien sind ganz besonders auf exzellente Kindergärten und Schulen angewiesen. Dafür müssen wir an das Tabu des Kooperationsverbotes ran. Mir geht es da nicht um die Bildungshoheit, die sollen die Länder behalten, aber der Bund soll direkt und dauerhaft Schulen in den Kommunen mitfinanzieren können. Zum Einstieg wollen wir ein Sanierungsprogramm für 10.000 Schulen.

Wird der moderate Realo-Politiker Cem Özdemir auch für die linke, umstrittene Vermögensteuer werben? Wird sie im neuen Wahlprogramm stehen?

Özdemir Ja. Eine solche Steuer für Milliardäre und Multimillionäre muss verfassungsfest und ergiebig sein, und sie darf die Investitions- und Innovationsfähigkeit der Wirtschaft nicht behindern. Dem Mittelstand bieten wir neben einer Digitalisierungs- und einer Entbürokratisierungsinitiative mehr Fairness bei der Besteuerung von großen Konzernen wie Amazon, Apple und Co., die sich bislang einen schlanken Fuß machen, während der Buchhändler um die Ecke brav Steuern bezahlt. Kleine und mittlere Einkommen wollen wir über eine Anhebung des Grundfreibetrags entlasten. Davon profitieren alle Steuerzahler.

Birgit Marschall und Eva Quadbeck führten das Gespräch.

(mar / qua)
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