Interview mit Cem Özdemir "Merkel ist alternativlos"

Berlin · Der Grünen-Chef Cem Özdemir stellt klare Bedingungen für den nächsten Asylkompromiss im Bundesrat. Über Angela Merkel aber sagt er im Interview mit unserer Redaktion: "Ich denke, die Kanzlerin sitzt fest im Sattel."

 "Ich denke, die Kanzlerin sitzt fest im Sattel", sagt Cem Özdemir.

"Ich denke, die Kanzlerin sitzt fest im Sattel", sagt Cem Özdemir.

Foto: laif

Ihr Parteifreund Winfried Kretschmann betet täglich für Angela Merkel, damit sie ihren Flüchtlingskurs fortsetzen kann. Tun Sie das auch?

Özdemir Ich bin zwar kein Atheist, aber ich praktiziere nicht. Aber es ist schön, wenn man andere Menschen in seine Gebete einschließt. Wir kritisieren die Kanzlerin, wenn es nötig ist, wir unterstützen aber auch richtige Schritte. Wenn ich mir das Personal in der Union anschaue inklusive der angeblichen Hoffnungsträger de Maizière und von der Leyen, dann gibt es zur Kanzlerin gegenwärtig keine personelle Alternative bei denen. Insofern habe ich als Staatsbürger ein vitales Interesse daran, dass die Kanzlerin stark genug ist, um sich mit ihrer Haltung in der Flüchtlingspolitik in der Koalition durchzusetzen.

Wie sehr ist Merkel angeschlagen?

Özdemir Ich denke, die Kanzlerin sitzt fest im Sattel. Alles, was die Merkel-Kritiker vorschlagen, hält einer kritischen Überprüfung nicht stand. Wer jetzt die deutschen Grenzen schließen will, der trägt Europa zu Grabe und damit auch unseren wirtschaftlichen Erfolg.

Wie viel Zeit bleibt noch, um das Europa der offenen Grenzen zu retten?

Özdemir Solche Fragen bringen uns nicht weiter. Mir fällt dazu eine Metapher ein: Ein Auto steht an der Ampel, der Motor springt nicht an, von hinten wird gehupt. Der vorne steigt aus und sagt zum Hintermann: Mein Wagen springt nicht an, vielleicht versuchst du es mal, ich hupe so lange für dich. So kommen mir alle die vor, die sagen, es geht nicht schnell genug. Es gibt Leute, die packen an und versuchen, die nationale, europäische und internationale Dimension der Krise anzugehen. Und es gibt Leute, die haben es sich bequem gemacht und nörgeln die ganze Zeit. Viele davon treffen sich in Wildbad Kreuth. Ich mag lieber Leute, die weniger quatschen und dafür mehr anpacken.

Muss die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, reduziert werden?

Özdemir Ich habe einen radikaleren Ansatz. Ich bin für eine Welt, in der niemand mehr fliehen muss...

Die werden wir nicht durchsetzen.

Özdemir Trotzdem sage ich: keine Panik. Wenn Griechenland mit der Türkei zusammenarbeitet, ist es keine unlösbare Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Menschen sich nicht mehr auf diesen gefährlichen Weg machen müssen. Das setzt natürlich voraus, dass wir alle dabei helfen. Alle müssen jetzt begreifen: Europa macht sich selbst kaputt, wenn jedes Land nur an sich selbst denkt.

Wie sollen wir Griechenland helfen?

Özdemir Wir müssen die Grenzschutzbehörde Frontex umbauen und dafür sorgen, dass es Seenotrettung gibt. Frontex muss auch den Schleppern das Handwerk legen und dafür sorgen, dass eine vernünftige Kontrolle und Registrierung aller Flüchtlinge stattfindet. Wir müssen wissen, wer zu uns kommt. Aufnahmezentren in Griechenland müssen kombiniert werden mit einem vernünftigen Verteilungsschlüssel für alle EU-Staaten. Und wir müssen in den Nachbarländern Syriens durch viel mehr Hilfe für den UNHCR dafür sorgen, dass die Menschen in den Flüchtlingslagern eine Perspektive haben.

Die Türkei soll drei Milliarden Euro von der EU für die dortigen Flüchtlingslager bekommen. Reicht das?

Özdemir Noch fährt die Türkei doppelgleisig. Einerseits verhandelt sie mit der EU, andererseits gibt es einen eigenen Wirtschaftszweig der Schlepperorganisationen an der Ägäis. Das wissen natürlich die türkischen Behörden. In einem Land, in dem kein Vogel fliegen kann, ohne dass es Erdogan mitbekommt, kann mir niemand erzählen, dass die Schlepper nicht ganz offiziell Teil der türkischen Wirtschaft sind. Man sollte nicht naiv verhandeln mit Ankara. Ziel muss es sein, dass sich die Situation der Flüchtlinge real verbessert und die Türkei nicht selbst neue Fluchtursachen schafft, weil sie im Südosten Kurden für die Gewalt der PKK in Geiselhaft nimmt und ganze Städte und Viertel von der Versorgung abriegelt. So etwas kennen wir sonst nur von Assad. Aber: So wie wir die Türkei brauchen, braucht die Türkei uns. Sie hat international kaum noch Partner.

Die Bundesregierung will Algerien, Marokko und Tunesien zu sicheren Herkunftsländern erklären. Stimmen die Grünen im Bundesrat zu?

Özdemir Das werden die Grünen-Landesregierungen prüfen und bewerten. Wir verschließen uns Gesprächen nicht prinzipiell.

Was fordern Sie im Gegenzug?

Özdemir Die Bundesregierung sollte für funktionierende Rücknahmeabkommen sorgen. Grundsätzlich brauchen wir endlich Lösungen für die vielen Geduldeten, die seit Jahren bei uns leben und von denen wir wissen, dass sie nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren. Ihr Status verhindert, dass sie an Integrationsleistungen herankommen, für sie gilt nur eine sehr beschränkte Arbeitserlaubnis. Wir brauchen bessere Bedingungen für Geduldete und müssen dafür sorgen, dass alle Flüchtlinge gleichzeitig arbeiten und einen Sprachkurs machen können. Der Sprachkurs darf nicht mehr Voraussetzung für die Arbeitsaufnahme sein. Außerdem fordern wir ein Einwanderungs- und Integrationsministerium, bei dem alle Entscheidungen und Kompetenzen gebündelt werden. Wo wir nicht zustimmen können, ist die Einschränkung des Familiennachzugs.

Dieser Punkt ist im Bundesrat ja nicht zustimmungspflichtig.

Özdemir Richtig. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass diese Regelung falsch ist. Wenn man die Zugangszahlen reduzieren möchte, müssen wir endlich dafür Sorgen, dass das Blutvergießen in Syrien gestoppt wird. Und wir Europäer sollten uns um Afrika, insbesondere um Nordafrika, kümmern. Jede und jeder in Europa muss verstehen: Die Afrikaner sind unsere Nachbarn. Geht's den Afrikanern schlecht, geht's auch uns schlecht.

Birgit Marschall führte das Interview.

(mar)
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