Demografie-Gipfel in Berlin Das Land der Alten braucht Antworten

An diesem Dienstag tagt der Demografiegipfel. Kanzlerin Merkel berät sich mit Verbänden und Experten. Es gilt Antworten zu finden auf eine der drängendsten Fragen der Republik. Bald ist jeder dritte Deutsche älter als 65. Viele Bürger sehen bereits ihren Wohlstand gefährdet. Merkel fordert mehr Zuwanderung.

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Foto: dapd

Prognosen für die Entwicklung von mehreren Jahrzehnten sind immer mit Vorsicht zu genießen. Dennoch lohnt ein Blick auf die Zahlen. Trifft nur ansatzweise zu, was die Statistiker des Bundesamtes in Wiesbaden hochgerechnet haben, steht das Land vor Umwälzungen, die das Leben aller Deutschen verändern werden.

Deutschland vergreist. Zwei Faktoren verstärken dabei gegenseitig ihre Wirkung.

Erstens: Die Bevölkerung in Deutschland wird immer älter. Gesünderes Leben und Fortschritte in der Medizin haben dazu geführt, dass mittlerweile 21 Prozent der Deutschen älter sind als 65 — nur in Japan gibt es mehr Senioren in der Gesellschaft. Und die Lebenserwartung steigt.

Zweitens: Gleichzeitig fehlt der Nachwuchs. In Deutschland wurden zuletzt so wenig Kinder geboren wie noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. 663.000 waren es im Jahr 2011. Das bedeutet, dass mehr Menschen sterben, als neue geboren werden. Deutschland vergreist nicht nur, sondern es schrumpft auch noch. Und: Die Geburtenzahl wird weiter zurückgehen.

Die Folge: Bis 2060 wird die Bundesrepublik fast ein Fünftel ihrer Bevölkerung verlieren. Jeder Dritte wird dann 65 Jahre oder älter sein. Und es werden doppelt so viele 70-Jährige leben wie Kinder geboren werden. 2008 waren in Deutschland etwa vier Millionen Menschen 80 Jahre oder älter; 2050 werden es bereits mehr als zehn Millionen sein.

Der Wandel hat gravierenden Einfluss auf alle Gesellschaftsbereiche - etwa auf den Arbeitsmarkt oder die Sozialsysteme. Eines der Probleme: Immer weniger Arbeitende müssen immer mehr Rentner finanzieren. Heute gibt es in Deutschland etwa 50 Millionen Menschen "im Erwerbsalter" zwischen 20 und 65 Jahre. Bis 2060 wird die Altersgruppe um etwa ein Drittel schrumpfen.

Gleichzeitig steigt die Zahl der Senioren. 2008 standen 100 Personen im Erwerbsalter nur 34 potenzielle Rentenbezieher gegenüber, 2060 werden es je nach Ausmaß der Zuwanderung 63 oder 67 Rentner sein.

Ein Gipfel sammelt Antworten

All das bildet den komplexen Hintergrund für den Demografiegipfel der Bundesregierung, zu dem Kanzlerin Merkel gerufen hat. Sie möchte den demografischen Wandel als Chance begriffen wissen. "Es geht darum, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren", sagte Merkel.

Auf dem Gipfel wird sie sich im Gespräch mit Experten und Verbänden über die Anforderungen einer alternden Gesellschaft austauschen. Bei einen ersten Demografiegipfel im vergangenen Jahr waren bereits Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themenbereichen eingesetzt worden, die nun erste Ergebnisse vorstellen sollen.

Wie umfassend das Thema unsere Gesellschaft betrifft, wird allein an der Bandbreite der verschiedenen Antworten deutlich, die bisher im Gespräch sind.

Arbeitskräfte So wünscht sich die Wirtschaft vor allem mehr Zuwanderung von Fachkräften. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) sprach sich etwa gegenüber unserer Redaktion für die Einrichtung von so genannten "Welcome-Centern" in den größten deutschen Städten aus. In der CDU stieß die Idee allerdings auf Skepsis.

In der Union stieß der Gedanke jedoch auf Skepsis. Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) riet dazu, zunächst die Potenziale im Inland und der EU zu nutzen. Er mahnte aber: "Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten den demografischen Wandel allein durch Zuwanderung lösen." Merkel hingegen plädierte am Dienstag für mehr Offenheit beim Thema Zuwanderung.

Frauen und Familie Als Schlüsselfaktor gelten auf dem Arbeitsmarkt auch die bislang weitgehend ungenutzten Potentiale von Frauen. Merkel sprach sich deswegen am Dienstag für eine gesetzlichen Anspruch auf Rückkehr in den Vollzeitjob aus. "Hier werden wir mit Sicherheit einiges weiter auch gesetzlich regeln müssen", so die Kanzlerin.

Den Anspruch auf Teilzeitarbeit für junge Eltern gebe es schon. "Aber wir brauchen auch, um Frauen ... nicht auf Dauer in Teilzeit zu belassen, die Möglichkeit, dass man zurückkehren kann und auch wieder einen Anspruch auf Vollzeitbeschäftigung hat", forderte Merkel. Zugleich versprach sie, dass sich der Bund auf Dauer an der Finanzierung der Krippenbetreuung beteiligen werde.

Leben im Alter Die SPD fordert hingegen die Einführung einer bezahlten Familienpflegezeit. "Wer seine Angehörigen über einen längeren Zeitraum pflegt, soll in Anlehnung an die Elternzeit bezahlte Familienpflegezeit nehmen können", sagte SPD-Vize-Chefin Manuela Schwesig unserer Redaktion.

Um für die Angehörigen größtmögliche Flexibilität zu schaffen, entwickele die SPD zurzeit ein 1.000-Stunden-Modell, nach dem es für entgangenen Lohn wegen der "Sorgearbeit für Angehörige" einen finanziellen Ausgleich geben solle. "Nach diesem Modell könnten die pflegenden Angehörigen flexibel beispielsweise halbtags pflegen oder auch nur einen Tag pro Woche für die Pflege frei nehmen", sagte Schwesig.

Merkel machte am Dienstag auf bereits bestehende Angebote aufmerksam und verwies auf sogenannte Mehrgenerationenhäuser. Vielerorts finde man schon sehr praktische Lösungen für Probleme, die sich aus der Alterung der Gesellschaft ergäben. Als Beispiel nannte sie "Ruf-Busse" in nur noch schwach bevölkerten Landesteilen. Ganz wichtig werde die Frage des selbstbestimmten Lebens im Alter werden.

Finanzierbarkeit DGB-Chef Michael Sommer konzentriert sich hingegen auf die Finanzierbarkeit der Sozialsysteme und spricht sich für eine höhere Besteuerung von Spitzenverdienern aus. Sommer sagte im Deutschlandfunk, um die Sozialsysteme weiterhin finanzieren zu können, müsse man Besserverdienende ab einem Jahreseinkommen von 100.000 Euro für Ledige höher besteuern.

Dass eine Vergreisung der Gesellschaft zu Einschnitten führen wird, davon geht inzwischen mehr als die Hälfte der Bundesbürger aus. Die Nachrichtenagentur epd berichtete am Dienstag von einer Umfrage der Stiftung für Zukunftsfragen, nach der 55 Prozent der Deutschen glauben, dass der Sozialstaat "kippt", wenn die Politik die Herausforderungen der alternden Gesellschaft nicht in den Griff bekommt. Vor allem bei Älteren macht sich demzufolge die Angst vor Renteneinbußen und einem Mangel an Pflegekräften breit.

Merkel fordert mehr Zuwanderung

Angesichts der alternden Gesellschaft will Merkel stärker auf Zuwanderer setzen. Bis 2025 werde es in Deutschland etwa sechs Millionen Menschen weniger im erwerbsfähigen Alter geben, sagte Merkel am Dienstag beim Demografiegipfel. Sie warb zudem für mehr Mobilität auf dem europäischen Arbeitsmarkt.

Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) riet dazu, zunächst die Potenziale im Inland und der EU zu nutzen. Er mahnte aber: "Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten den demografischen Wandel allein durch Zuwanderung lösen."

Die Opposition warf der Regierung Versagen vor. Die SPD beklagte, die Regierung habe den demografischen Wandel komplett verschlafen. Die Linke sprach von einer "reinen Showveranstaltung". Die Grünen rügten, die Regierung habe kein Konzept und sitze die Probleme aus.

(pst)
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