Zweiter Weltkrieg Das Schicksal des Soldaten Bruno Brusten

Köln/Dinslaken (RP). In einem einsamen Kriegsgrab im Wald bei Dinslaken ruht der Kölner Arbeiter Bruno Brusten. Die Anwohner sprechen von "unserem Bruno” und pflegen die mit Holzlatten umzäunte kleine Anlage seit Jahrzehnten liebevoll. Der Gefallene gibt Millionen Weltkriegstoten ein Gesicht.

Gedenkfeiern in Polen zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns
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In der Brusttasche des toten Infanteristen finden die Waldarbeiter ein sorgsam gefaltetes Telegramm: "Lieber Bruno, habe Dir Deinen ersten Sohn geboren”, lautet die Nachricht. "Nur, weil er die Geburt seines Kindes im Dezember 1944 ordnungsgemäß bei der Stadtverwaltung in Köln angemeldet hat, wurde die Wehrmacht auf meinen Onkel aufmerksam.

So wurde er in den letzten Kriegstagen doch noch eingezogen”, sagt sein Neffe Siegfried Brusten. Dann folgt sekundenlanges Schweigen am Telefon ­- auch Jahrzehnte danach lassen die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges den früheren Gewerkschaftssekretär der IG Metall nicht los.

Siegfried Brusten (Jahrgang 1940) hat seinen Onkel noch persönlich kennengelernt: "Er trug eine dicke Brille. Nach der Schulbank nahm er, wie damals üblich, direkt die Arbeit auf ­ beim Motorenhersteller Klöckner-Humboldt-Deutz. Wegen seiner starken Sehbehinderung wurde er als Soldat zunächst nicht eingezogen und arbeitete zuletzt in Euskirchen, wo er durch das Telegramm von der Geburt seines Sohnes in Köln erfuhr.”

"Kanonenfutter und letztes Aufgebot"

Bruno Brusten, am 6. Oktober 1918 in Köln-Mülheim geboren, hatte am 4. August 1944 die Kölnerin Maria Esser geheiratet. Als "Kanonenfutter und letztes Aufgebot der Wehrmacht”, so sein Neffe, wurde er dann in die letzten Abwehrkämpfe am Niederrhein geschickt und fiel am 27. März 1945 im Oberlohberger Wald bei Dinslaken durch Granatsplitter, die ihn im Rücken tödlich verletzten.

Bruno Brustens Grab besteht bis heute: Umrandet von braunen Holzlatten steht unter einem Baum ein schlichtes hellbraunes Holzkreuz, auf der Gedenktafel darunter ist der Name des Toten zu lesen. Die Ruhestätte hat eine ungewöhnliche Geschichte: Wie bei allen anderen provisorischen Ruhestätten plante der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge eine Umbettung auf einen Friedhof.

Doch die Bürger von Oberlohberg protestierten unerwartet heftig dagegen. "Für die Bevölkerung war das ,unser‘ Bruno”, berichtet sein Neffe. Er vermutet "ein Stück Vergangenheitsbewältigung dahinter. Am Grab meines Onkels konnten alle ihrer Trauer Ausdruck verleihen, deren Angehörige irgendwo in Russland oder auf einem anderen Kriegsschauplatz gefallen oder verschollen waren.”

"Das fällt mir sehr schwer"

Unterstützung erhielten die Oberlohberger von höchsten Stellen, unter anderem vom damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. 1956 enschied schließlich der Düsseldorfer Regierungspräsident Kurt Baurichter: "Das Einzelgrab wird als Kriegsgrab amtlich anerkannt und bleibt, wo es ist.”

So findet am Donnerstag auf dem Parkfriedhof Dinslaken eine Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an den Weltkriegsbeginn statt. "Dabei werden zwei sogenannte Legendentafeln enthüllt. Eine der beiden mit der Dokumentation des Schicksals des Gefallenen soll dann mitten im Wald am Grab von Bruno Brusten stehen”, sagt Wolfgang Held vom Volksbund NRW. Er hat sich mit dem außergewöhnlichen Fall intensiv befasst.

Auch Brustens Neffe plant, dabei zu sein: "Aber das fällt mir sehr schwer. Bei solchen Ereignissen kommt die Erinnerung an die Kriegszeit immer wieder zurück” ­ an eine Leidenszeit, wie sie damals viele deutsche Familien ertragen mussten: Der kleine Siegfried verlor im Krieg seinen Vater und einen weiteren Onkel. Mit seiner Mutter flüchtete er vor dem alliierten Bombenhagel aus der Domstadt zu den Großeltern nach Dresden ­ nicht ahnend, dass es noch schlimmer kommen würde: Nur mit Glück entkam der Junge dort dem verheerenden Feuersturm nach den britischen Bomber-Wellen. Diese Luftangriffe im Februar 1945 kosteten Zehntausenden Zivilisten das Leben.

Von der Grabstätte seines Onkels bei Dinslaken erfuhr Siegfried Brusten erst acht Jahre nach Kriegsende und suchte später danach: "Ein Unbekannter hat mir den Weg gewiesen. ,Unser Bruno liegt dahinten im Wald‘, hat er mir gesagt.”

60 Millionen Menschen getötet

Der Tod des 26-jährigen Bruno Brusten im Wald bei Dinslaken steht für Millionen Kriegsopfer: Bereits der erste Feldzug vor 70 Jahren gegen Polen hatte die deutsche Wehrmacht zwischen 11.000 und 16.000 Gefallene gekostet, war also ein unerwartet verlustreicher Blitzkrieg. Während des Zweiten Weltkrieges fanden verschiedenen Schätzungen zufolge insgesamt 50 bis 60 Millionen Menschen den Tod, darunter viele Zivilisten.

Die Gesamtopferzahlen wurden sofort zur politischen Waffe: Je nach Interessenlage waren zum Beispiel die Morde an politisch oder rassistisch Verfolgten ein- oder ausgeklammert; einzelne Staaten legten die Totenzahlen eher willkürlich fest. Die hohe Dunkelziffer erklärt sich auch aus den unzähligen Vermissten auf den Schlachtfeldern, bei den Vertreibungen und im jahrelangen Bombenkrieg.

Noch heute werden zufällig, zum Beispiel bei Bauarbeiten, weitere Opfer entdeckt -­ wie im vergangenen Jahr jene namenlosen 2116 vermutlich deutschen Erwachsenen und Kinder im ostpreußischen Marienburg. Sie fanden am 14. August dieses Jahres auf einer deutschen Kriegsgräberstätte bei Stettin ihre letzte Ruhestätte.

"Vor ein paar Monaten haben wir drei Flieger beerdigt, deren Überreste auf einem Feld in den Ardennen ausgegraben worden waren”, sagt Lucia Christiaen, Leiterin der Begegnungsstätte am deutschen Soldatenfriedhof im belgischen Lommel. Dort ruhen 39.000 Kriegstote, darunter deutsche Luftwaffenhelferinnen und Krankenschwestern sowie Ausländer in Wehrmachtsdiensten wie Schweden, Italiener oder Franzosen. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge betreut im Auftrag der Bundesregierung weltweit derzeit 827 Soldatenfriedhöfe mit zwei Millionen Toten.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges, der vor 70 Jahren begann, hatte Russland mit rund 20,9 Millionen Menschen ­ jüngste Untersuchungen sprechen sogar von 37 Millionen ­ mit Abstand die höchsten Verluste zu beklagen. Deutschland verlor zwischen 5,5 und sieben Millionen Menschen, darunter mindestens 2,1 Millionen Zivilisten.

Um das Schicksal der Vermissten kümmert sich in Deutschland seit 1945 unter anderem der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Seine Mitarbeiter führten mehr als 16 Millionen Menschen wieder zusammen und klärten weitere 1,3 Millionen Schicksale auf. "Noch immer gehen jährlich zwischen 1000 und 2000 neue Suchanfragen zu Vermissten aus der Zeit von 1939 bis 1945 bei uns ein”, berichtete DRK-Präsident und Ex-Innenminister Rudolf Seiters in einem Vortrag ­ für diese um ihre Liebsten trauernden Angehörigen hat der Zweite Weltkrieg bis heute kein Ende gefunden.

(RP)
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