Analyse Deutschland denkt links

Düsseldorf · Paradoxe Wirklichkeit – in Deutschland dominieren linke Einstellungen und das Gefühl, dass die Ungerechtigkeit zunimmt. Trotzdem regiert die Christdemokratin Angela Merkel seit siebeneinhalb Jahren.

Landtagswahl NRW 2022: SPD Wahlprogramm für die NRW-Wahl 2022 - Überblick
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Das Wahlprogramm der SPD für die Landtagswahl in NRW 2022

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Foto: dpa, Arno Burgi

Paradoxe Wirklichkeit — in Deutschland dominieren linke Einstellungen und das Gefühl, dass die Ungerechtigkeit zunimmt. Trotzdem regiert die Christdemokratin Angela Merkel seit siebeneinhalb Jahren.

Die Bundesrepublik Deutschland gilt im Grunde als konservatives Land. Von den 64 Jahren seit der ersten Wahl 1949 stellte die CDU 45 Jahre lang — mehr als zwei Drittel der Zeit — den Kanzler. Dazu passte, dass konservative Werte wie Fleiß, Leistung und Familie stets einen höheren Stellenwert besaßen als Umverteilung, breite Mitsprache oder hohe Sozialstandards. Ziele, denen sich eher die Parteien der Linken verpflichtet fühlen.

Doch diese Gleichung geht in Deutschland immer weniger auf. Obwohl derzeit eine christlich-liberale Regierung die Bundesrepublik führt, haben sich die Einstellungen der Bevölkerung in den vergangenen zehn Jahren kräftig nach links verschoben. So findet nach den Umfragen des Berliner Meinungsforschungsinstitut Infratest Dimap seit 2006 stets eine Mehrheit der Deutschen, dass es im Land "eher ungerecht" zugeht. In der Spitze waren es sogar 67 Prozent. Auch unter den Anhängern der Union sind immerhin 40 Prozent der Meinung, der soziale Ausgleich würde nicht richtig funktionieren, obwohl jeder dritte Euro in Deutschland für Sozialleistungen ausgegeben wird.

Sozialforscher machen dafür die große Finanz- und Schuldenkrise verantwortlich. Gleichzeitig haben seit den Hartz-IV-Reformen 2005 die Lohnunterschiede zugenommen, und der Anteil der flüchtigen Arbeitsverhältnisse steigt. Das lässt viele nach einem starken Staat rufen, der in die Vermögens- und Einkommensverhältnisse eingreift.

Politisch profitieren davon die Parteien der Linken. Nach den Umfragen des Allensbacher Instituts für Demoskopie sind SPD, Grüne, Linke und Piraten — so unverträglich sie untereinander auch sein mögen — seit vier Jahren stets in der Mehrheit. Und manche Politiker von SPD und Grünen sind fest davon überzeugt, dass die Ablösung der schwarz-gelben Koalition sicher gelingen würde, wenn es vor der Bundestagswahl dazu klare Signale gegeben hätte.

Schon vor der Finanzkrise kündigten sich diese linken Auffassungen vor allem in wirtschaftlichen Fragen an. Die Öffnung des Arbeitsmarkts durch Gerhard Schröders Hartz-IV-Reformen, eigentlich eher ein Projekt der Wirtschaftsliberalen, empfand eine Mehrheit als ungerecht. Auch die Spreizung der Lohnunterschiede, der starke Anstieg der Managergehälter und die Freiheit auf den Kapitalmärkten sahen die Deutschen vornehmlich skeptisch.

Als die CDU-Chefin Angela Merkel 2005 die Wahl mit einem betont liberalen Programm gewinnen wollte, das den Sozialstaat deutlich zurückschneiden sollte, erlitt sie Schiffbruch. Die Folge war eine große Koalition und die Erkenntnis, dass man mit marktorientierten Thesen in Deutschland keine Wahl gewinnen kann. Auch als Kanzlerin der schwarz-gelben Koalition hat Merkel längst gemerkt, dass der Zeitgeist links weht. Beharrlich versucht sie seit 2009 Themen von SPD und Grünen zu besetzen und sie entsprechend zu verwässern. Es fing damit an, dass die Union die großangekündigten Steuersenkungen nicht umsetzte. Die Sozialversicherungen galten die ganze Legislaturperiode hindurch als tabu, mit dem Betreuungsgeld kam sogar eine neue soziale Wohltat hinzu.

Auch bei gesellschaftlichen Themen nimmt Merkels Partei neue Positionen ein. So setzt sich inzwischen die CDU für mehr Gleichberechtigung für die Homo-Ehe ein, will Mindestlöhne durchsetzen und hat sich zuletzt für eine verbindliche Frauenquote ausgesprochen — wenn auch erst für 2017. Merkel weiß, dass solche Themen beim Wahlvolk sehr populär sind. Sie könnten bei strikter Gegnerschaft Wählerwanderungen zu den Oppositionsparteien auslösen. Denn der Zeitgeist weht nicht nur aus ökonomischen Gründen links. Traditionelle Werte wie Familienbindung und Ehe verlieren in einer ausdifferenzierten Gesellschaft an Bedeutung. An ihre Stelle tritt die Patchwork-Familie. Auch das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare wird bei den Christdemokraten ganz offen diskutiert — was vor wenigen Jahren noch unmöglich war.

Das linke Weltbild wird abgerundet durch die Internationalisierung der Gesellschaft. Aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage ist Deutschland wieder Einwanderungsland geworden. Vor allem aus der Europäischen Union strömen die Menschen in die Bundesrepublik. Anders als Anfang der 90er Jahre, als fremdenfeindliche Anschläge das Bild der Deutschen im In- und Ausland beschädigten, sind nun die Einwanderer vielfach willkommen. Neben der ökonomischen Notwendigkeit zusätzlicher Arbeitskräfte spiegeln sich darin nicht zuletzt neue Haltungen. Auch in Deutschland gilt inzwischen Verschiedenartigkeit als Gewinn, nicht so sehr als Grund zur Beunruhigung.

Als wären sie vom Zeitgeist erst recht getrieben, überbieten sich SPD und Grüne in linker Wahlkampf-Rhetorik. Die SPD will gleich sechs Steuerarten erhöhen, die Grünen dringen auf eine verschärfte Progression in der Einkommensteuer, wollen das Ehegattensplitting abschaffen und eine Vermögensabgabe für Reiche einführen. Beim breiten Wählervolk finden die Steuererhöhungen Zustimmung. 72 Prozent sprachen sich bei der jüngsten Umfrage von Infratest Dimap dafür aus, darunter fast 60 Prozent der Unionsanhänger.

Für manche Sozialforscher hat der Marsch nach links indes den Höhepunkt bereits überschritten. Das Allensbacher Institut hat herausgefunden, dass auch bei mittleren Einkommen Werte wie Leistungsgerechtigkeit einen hohen Stellenwert haben. Ebenso werden Aufstieg und Fleiß anerkannt. Selbst die traute Kleinfamilie gilt noch immer als Wert, wenn sie auch seltener anzutreffen ist. Gut möglich, dass die deutsche Gesellschaft im Grunde konservativ bleibt — trotz des linken Zeitgeistes. Dann aber in einer modernen Form, die nicht zu viel an Einkommens- und Vermögensunterschieden duldet.

(RP/csi/jre)
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