Serie "60 Jahre Bundesrepublik" Die Ära Willy Brandt

Düsseldorf (RP). 20 Jahre nach dem Gründungsjahr 1949 gelingt den Sozialdemokraten der Machtwechsel mit Bundeskanzler Willy Brandt. Er und sein Außenminister Walter Scheel (FDP) begründen unter den Stichwörtern "Entspannungspolitik" und "Mehr Demokratie wagen" außen- und innenpolitisch eine neue, wenn auch nur kurze Zeitspanne.

 Willy Brandt.

Willy Brandt.

Foto: AFP, AFP

28. Oktober 1969. Sitzung des Bundestages. Regierungserklärung. Erstmals seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland regierte ein sozialdemokratischer Kanzler: Willy Brandt. Ikonengleich schmückt der Charismatiker bis heute die geistigen Wohnstuben der deutschen Sozialdemokratie.

Die CDU/CSU, die seit 1949 die Fundamente der Republik gelegt und deren außenpolitische wie ökonomische Grundmauern errichtet hatte, war im Herbst 1969 plötzlich Opposition. Und sie war wütend, weil sie glaubte, von Brandt und dessen FDP-Koalitionspartner, Außenminister Walter Scheel, um den Wahlsieg betrogen worden zu sein. Die Resultate der Bundestagswahl 1969: CDU/CSU: 46,1 Prozent; SPD: 42,7; FDP: 5,8.

Dem Zorn der neuen Opposition auf die neue Regierung entstieg an jenem 28. Oktober aufgebrachte Stimmung, nachdem Brandt in seiner ersten Regierungserklärung den hochfahrend klingenden Satz gesprochen hatte: "Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an." Der Satz drückte aus, was der ebenfalls neue Bundespräsident Gustav Heinemann nach seiner Wahl im März 1969 nüchtern konstatiert hatte: dass ein "Stück Machtwechsel" stattgefunden habe. Zweimal in einem Jahr setzten sich SPD und FDP knapp durch: SPD-Kandidat Gustav Heinemann, ein Essener Jurist von größter Sachlichkeit, wurde im dritten Wahlgang zum Staatsoberhaupt gewählt; die Regierung Brandt/Scheel verfügte im Parlament nur über eine Mehrheit von fünf Stimmen.

Die sozial-liberale Regierung war das Werk der Vorsitzenden von SPD und FDP, Brandt und Scheel. Die beiden neben Brandt starken Männer der Sozialdemokratie, Herbert Wehner und Helmut Schmidt, misstrauten den Liberalen. Vor allem Wehner schnarrte über "die alte Pendlerpartei"; er hätte lieber die 1966 gebildete Große Koalition mit CDU und CSU fortgesetzt. Anders jedoch als bei seinem jähen Ende als Bundeskanzler Anfang Mai 1974 war Willy Brandt fünf Jahre zuvor ein Treibender, kein Getriebener und Zermürbter. Noch in der Wahlnacht am 28. September 1969 hatte er mit Walter Scheel das risikobehaftete Unternehmen "Machtwechsel" verabredet.

Was der Lübecker Brandt und der Solinger Scheel fortan mit ihrem Bund politisch anstellten, bescherte ihnen außenpolitische Reputation, mehr noch: Es hob den Bundeskanzler empor zu historischer Größe, zum Friedensnobelpreis gar, und den Bundesaußenminister ab Juli 1974 für fünf Jahre ins Oberstübchen der Republik, in das Amt des Bundespräsidenten.

Dass der 1992 verstorbene Brandt nach einer kürzlich veröffentlichen Allensbach-Befragung neben Adenauer auf Rang 1 der wichtigsten deutschen Nachkriegspolitiker thront, hat mit seiner friedenspolitischen Ausstrahlung, seiner Ost- und Entspannungspolitik zu tun. Brandts Gabe, einer allgemeinen Aufbruchstimmung mit Reden und Gesten Ausdruck zu verleihen, machte ihn zu einer Persönlichkeit, die mit dem Zeitgeist im Bunde stand. Obwohl er nur knapp fünf Jahre regierte, zudem die beiden letzten in physisch und psychisch labilem Zustand, spricht man heute mit Blick auf die kurze Spanne zwischen Ende 1969 und Anfang 1974 von der "Ära Brandt".

Ins Buch der Geschichte schrieben sich die beiden Köpfe des 1969er Machtwechsels durch ihre Ostpolitik ein. Dahinter stand der Wunsch, den Status quo in Europa, die West-Ost-Teilung und die Staatlichkeit der DDR als politisches Faktum anzuerkennen und durch eine Serie von Verträgen mit Moskau, Warschau, Prag und Ost-Berlin das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und wichtigen Ostblock-Staaten zu entkrampfen. Willy Brandts Vertrauensmann und Unterhändler, Egon Bahr, hatte dazu den Begriff "Wandel durch Annäherung" kreiert. Die in legendären Bundestags-Debatten voller Leidenschaft vorgetragenen CDU/CSU-Unterstellungen, Brandt und Scheel betrieben Wandel durch Anbiederung und opferten die Idee der deutschen Wiedervereinigung auf dem Altar ostpolitischer Entspannungs-Träumereien, ist längst widerlegt.

Der Versuch, ein vertraglich geregeltes Miteinander zwischen Deutschland-West und Deutschland-Ost zu schaffen, hat den Weg zum Wegfall von Mauer und Eisernem Vorhang vor 20 Jahren nicht verstellt, vielmehr mit geebnet. In den Verträgen von Moskau und Warschau (1970) erkannte die Bundesrepublik Deutschland faktisch die Oder-Neiße-Linie als unverletzliche Westgrenze Polens an. Brandt sagte den düpierten Vertriebenen, nichts werde aufgegeben, was nicht bereits verloren sei.

Damals brannte sich der Kniefall des Kanzlers in Warschau vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauers Ghettos ins historische Gedächtnis ein. Das Foto wurde zum Symbol einer mit dem Friedensnobelpreis an Brandt geadelten Politik, die auf Versöhnung gründete. Ein Nebeneffekt der neuen Ostpolitik war, dass sich der außen- und deutschlandpolitische Handlungsspielraum Bonns erweiterte. Ausdruck dafür war das Viermächte-Abkommen über Berlin, in dem Moskau den ungehinderten Transitverkehr zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet garantierte. Mehrere Vereinbarungen zwischen Bonn und Ost-Berlin beziehungsweise der DDR und dem Senat von West-Berlin über Reise- und Besuchserleichterungen waren praktische Folgen der Entspannungspolitik. 1973 wurden beide deutschen Staaten Mitglieder bei den Vereinten Nationen.

Im deutsch-deutschen Grundlagenvertrag hatte man ein Jahr zuvor "Ständige Vertretungen" des einen im jeweils anderen deutschen Staat vereinbart. Das Wort "Botschaft" wurde im Sinne Bonns bewusst vermieden, weil die DDR für die Bundesrepublik nicht "Ausland" darstellte und sein durfte. Darauf hatte das auf Initiative des CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß angerufene Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Bundesregierung und jede Nachfolgerin verpflichtet.

Übertritte von Abgeordneten aus dem sozial-liberalen Lager zur CDU/CSU führten dazu, dass der Vorsprung von fünf Mandaten für SPD und FDP im Parlament schrumpfte. Der daraufhin von CDU/CSU-Oppositionsführer Rainer Barzel unternommene Versuch, zum ersten Mal seit 1949 einen Kanzler mittels Misstrauensvotum (Artikel 67 des Grundgesetzes) zu stürzen, misslang im April 1972 spektakulär. Barzel fehlten nach der Abstimmung zwei Stimmen. Es stellte sich heraus, dass Geld geflossen war, damit käufliche Unions-Abgeordnete Barzels Scheitern sicherten. Brandt blieb nicht nur Kanzler, sondern feierte bei der vorgezogenen Bundestags-Neuwahl im November 1972 einen Triumph. Die Wahl wurde zur Volksabstimmung über die Entspannungspolitik. Die SPD schaffte 45,8 Prozent, ein von ihr nie mehr erreichtes Resultat auf Bundesebene.

Von nun an ging's mit der Regierung bergab. Der Friedensnobelpreis-Kanzler ließ die Zügel schleifen. Depressive Stimmungen suchten ihn heim. SPD-Fraktionschef Herbert Wehner grollte 1973 in Moskau: "Die Nummer eins ist entrückt, abgeschlafft. Der Herr badet gerne lau, so in einem Schaumbad." Brandt fehlte zu dem Zeitpunkt genügend politischer Wille, Wehner die Machtfrage zu stellen.

Vergessen schienen die von weiten Teilen der Bevölkerung begrüßten innenpolitischen Reformen — mehr Mitbestimmung, Herabsetzung des Wahlalters. Vernebelt war der Aufbruch zu neuen Ufern einer staatlichen Versorgungsseligkeit. Sie kostete Milliarden Mark, die kreditfinanziert wurden. Die Aufblähung des Sozialstaates schuf eine Nimm-Mentalität, die Wünschenswertes für machbar hielt und auf Schulden-Sand baute. Währungsturbulenzen, Ölliefer-Boykotte, hohe Arbeitslosigkeit (sieben Prozent), ein unverantwortlicher Elf-Prozent-Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst machten der Regierung das Überleben schwer; Brandt machten sie es zur Qual.

Dass der Kanzler im April/Mai 1974 rasch resignierte, nachdem sein enger Mitarbeiter Günter Guillaume als DDR-Spion enttarnt worden war, lag auch daran, dass der sensible Brandt wohl spürte, dass eine Zeit im Kanzleramt zu Ende war, die phasenweise einer politischen Liebesbeziehung mit der Hälfte der Wahlberechtigten glich. Dass es auch reale Amouren Brandts gegeben haben soll, von denen der Spion G. als Reisemarschall wusste und mit denen die DDR-Führung den Regierungschef hätte unter Druck setzen können, war mehr als eine Mutmaßung.

Als Brandt am 6. Mai 1974 sein Rücktrittsschreiben an den Bundespräsidenten verfasste, zog er einen Schlussstrich unter das sozial-liberale Projekt. Der SPD-Kanzler Helmut Schmidt regierte zwar noch acht Jahre mit der FDP. Aber aus der 1969 gefeierten Hochzeit im politischen Himmel wurde nach der Ära Brandt eine Arbeitsbeziehung.

(RP)
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