Ein Jahr nach dem Bombardement von Kundus Die blutigste Nacht der Bundeswehr

Berlin (RPO). Es waren folgenschwere Minuten, die sich vor einem Jahr in Nordafghanistan abspielten. In der Nacht zum 4. September wurden auf deutschen Befehl hin zwei entführte Tanklaster bei Kundus bombardiert. Dabei gab es mehr als hundert Tote und Verletzte, unter ihnen auch Zivilisten. Die Auswirkungen des Angriffs reichten bis nach Berlin und wirken noch heute nach. Die Opfer pochen auf höhere Entschädigung, der Erste verklagt nun das Verteidigungsministerium.

 Karim Popal vertritt die Angehörigen der Opfer als Anwalt.

Karim Popal vertritt die Angehörigen der Opfer als Anwalt.

Foto: dapd, APN

In den frühen Morgenstunden des 4. September sorgt Oberst Georg Klein für eine Zäsur in der deutschen Afghanistanpolitik: Um 1.39 Uhr befiehlt er den Angriff auf eine Gruppe Taliban. Exakt zehn Minuten später wirft eine US-amerikanische F-15 zwei 227-Kilo-Bombe auf zwei Tanklaster ab. Sie waren auf einer Sandbank in der Mitte des Kundus-Flusses steckengeblieben.

Ein Jahr später ist der Einsatz am Hindukusch noch immer in politisch schwerem Fahrwasser. Die Zahl der Kundus-Opfer ist bis heute ungeklärt. Bis zu 142 Menschen starben nach Nato-Angaben bei dem Angriff, die Bundeswehr geht dagegen von 91 Getöteten aus. Fest steht, dass auch Unschuldige starben. Es ist der schwerste und blutigste in der Geschichte der Bundeswehr.

Klage gegen die Bundesrepublik

Erstmals hat nun ein Opfer Klage gegen die Bundesrepublik eingereicht. Bei dem Kläger handelt es sich um einen der Fahrer der Laster, sagten die Anwälte Andreas Schuld und Markus Goldbach. Sie fordern für ihren Mandanten medizinische Betreuung und ein Schmerzensgeld. Der Fahrer überlebte den Angriff verletzt und habe bislang keine Entschädigung erhalten.

Auch die Angehörigen der weiteren Opfer pochen auf Entschädigung, auch wenn diese offiziell nicht so heißen darf. Doch wie viel kostet ein Toter? Das Verteidigungsministerium hatte vor etwa drei Wochen mitgeteilt, die Familien der Opfer würden jeweils 3800 Euro (5000 Dollar) als Ausgleich erhalten. Insgesamt würden etwa 327.600 Euro (430.000 US-Dollar) überwiesen.

Die Druckwellen des Bombardements erreichten auch Berlin. Der Vorfall forderte hier politische Opfer - obwohl das Verteidigungsministerium sich offenbar bemüht hatte, Informationen zu verschleiern. Oberst Klein jedoch kommt letztlich mit einem blauen Auge davon.

Am 4. September verfolgt er auf Live-Bildern, wie sich sechs Kilometer südwestlich von Kundus immer mehr Menschen um die beiden Laster versammeln. Laut Geheimdienstinformationen sollen die Taliban sie entführt haben, um sie als "Rollende Bomben" gegen die Deutschen einzusetzen. In dem Kommandostand kann Oberst Klein im Beisein der Sondereinheit "Task Force 47", die aus vielen Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) besteht, auf den Bildern Aufständische mit Panzerfäusten und Maschinengewehren vom Typ Ak-47 erkennen. Auch vier Taliban-Führer sind angeblich in der Gruppe.

Ermittlungsverfahren eingestellt

Die Opfer fordern Ermittlungen gegen Oberst Klein. Doch der steht zumindest rechtlich mit einer reinen Weste da. Die Bundesanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt. Sein Handeln sei auf der Grundlage des humanitären Konfliktvölkerrechts rechtmäßig gewesen. Mit Disziplinarmaßnahmen muss er auch nicht rechnen. Denn die Bundeswehr beendet ihre Ermittlungen gegen Oberst Klein ebenfalls. Sie sieht keine "Anhaltspunkte für ein Dienstvergehen". Als bekennender Christ hat sich Klein jedoch immer wieder Gedanken über seine Verantwortung gemacht.

Viele Hintergründe unklar

US-amerikanischen Piloten überfliegen die Szenerie. Gleich fünf Mal sollen sie den Deutschen angeboten haben, die Menschenmenge durch Tiefflüge zu vertreiben. Doch die Bundeswehr lehnt ab. Klein sieht eine unmittelbar Gefahr für seine Soldaten und befielt den Bombenabwurf. Inwieweit ihn die KSK gedrängt haben könnte, ist bis heute unklar. Auch weitere Hintergründe werden wohl nie restlich aufgeklärt.

Nach dem Angriff spricht die Bundeswehr zunächst von 56 Toten, ausschließlich Aufständischen. Doch schnell werden Zweifel laut. Schon am Folgetag schließt Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen zivile Opfer nicht aus. Auch der damalige Nato-Oberkommandierende US-General Stanley McChrystal bestätigt zivile Verletzte. Wollten einige Dorfbewohner nur die Gelegenheit nutzen, sich Benzin abzupumpen?

Berliner Politik in der Defensive

Der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) erklärt dennoch, nach seinen Informationen seien bei dem Angriff ausschließlich terroristische Taliban getötet worden. Und so gerät in der Folge des Angriffs auch die Berliner Politik in die Defensive.

Nach der Bundestagswahl wird der neue Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ebenfalls in die Affäre gezogen. Anfang November hält der CSU-Politiker den Luftschlag noch für "militärisch angemessen". Einen Monat später lautet sein Urteil "militärisch nicht angemessen". Er räumt Fehler ein.

Guttenberg setzt Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhahn und Verteidigungsstaatssekretär Peter Wichert vor die Tür. Er behauptet, sie hätten ihm Informationen vorenthalten. Umgekehrt bezichtigt Schneiderhahn seinen Minister später in Teilen der Lüge. Als Konsequenz aus den Informationspannen tritt Ex-Verteidigungsminister Jung - inzwischen Bundesarbeitsminister - am 27. November zurück. Fehler räumt er trotzdem nicht ein.

Opposition beklagt unterdrückte Informationen

Die Opposition will auch Guttenberg zu Fall bringen. Der Verteidigungsausschuss wandelt sich zu einem Untersuchungsausschuss um. Doch SPD, Grüne und Linke beklagen regelmäßig, ihnen würden Akten vorenthalten, das Verteidigungsministerium unterdrücke Informationen.

Doch Guttenberg kann die Angriffe parieren. Er übernimmt zwar die Verantwortung für seine Fehleinschätzung des Luftschlags. Die Schuld dafür sieht er aber weiter in seinem Ministerium.

(apd/afp/bs)
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