Serie: 60 Jahre Bundesrepublik Die erste große Koalition

Berlin (RP). 1966 finden sich Union und SPD zur Regierung unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger zusammen. Mehr Planung und höhere Staatsausgaben, so scheint es, lösen die Probleme der Republik. Noch ist der Machbarkeitsglaube schier unbegrenzt; die Fußangeln zeigen sich erst später. Das Bündnis beflügelt die SPD, die sich als Kraft des Aufbruchs profiliert.

 Kurt Georg Kiesinger.

Kurt Georg Kiesinger.

Foto: AP ARCHIV, AP

Kurt Georg Kiesinger, so höhnte vor kurzem der "Spiegel", sei den Bundesbürgern allenfalls als der Kanzler in Erinnerung, der wegen seiner früheren Mitgliedschaft in der NSDAP geohrfeigt worden sei. Diese Charakterisierung wird weder Kiesingers Verhalten in der Nazi-Zeit gerecht noch seiner Leistung als Kanzler der Großen Koalition von Union und SPD. Sie verweist aber darauf, dass er auf die wichtigsten Ereignisse in der Zeit zwischen Dezember 1966 und September 1969 keinen Einfluss nahm - oder nehmen konnte.

Zu nennen wären die Erschießung des gegen den Schah von Persien demonstrierenden Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin, das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke zu Ostern 1968 ebenfalls in Berlin, die von Studenten getragenen Pariser Unruhen vom Mai 1968, die sofort Widerhall in der Bundesrepublik fanden, ferner der immer mehr Empörung auslösende Vietnam-Krieg der USA, der Einmarsch der Staaten des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei im August 1968 und schließlich die Wahl des Bundespräsidenten Gustav Heinemann (SPD) im März 1969. Alle diese Ereignisse hatten für das Jahrzehnt zwischen 1970 und 1980 weitreichende Folgen.

Kiesinger war vom Südflügel der Union auf den Schild gehoben worden, nachdem Ludwig Erhards Popularität zerbröselt und die FDP nach der Wahlniederlage der CDU in Nordrhein-Westfalen (Juli 1966) nervös geworden war. Im großen Durcheinander traten die Bonner FDP-Minister zurück, Erhard resignierte. Die CSU hatte mit den Liberalen noch eine Rechnung offen: 1962, in der "Spiegel"-Affäre, hatten die FDP-Minister Franz Josef Strauß aus seinem Amt als Verteidigungsminister gedrängt.

In der CDU war die FDP vielen lästig geworden. So trafen sich die FDP-Gegner der Union mit den SPD-Chefs, die herauswollten aus der Langzeit-Opposition. Große Aufgaben - Bewältigung der Wirtschaftskrise und Auflösung eines innerstaatlichen Reformstaus -, so waren sich beide Seiten einig, sprachen für die Große Koalition. Kiesinger hatte sich 1958 aus Bonn verabschiedet, wo er vergebens an Ministeriums-Portalen gerüttelt hatte. Als Ministerpräsident von Baden-Württemberg galt er, der Gründer der neuen Universität Konstanz, als Freund von Reformen.

Union und SPD waren sich zunächst so einig, dass sie eine langfristige Machtteilung vereinbarten. Sie planten ein Mehrheitswahlrecht nach englischem Vorbild. Das wäre der Tod der FDP gewesen. Sie wurde so an die Seite der Kräfte gedrängt, die eine gründliche Veränderung der Verhältnisse wünschten. Noch war das eine Minderheit, aber eine rasch wachsende.

Union und SPD waren sich einig, wegen der Wirtschaftskrise die Staatsausgaben zu erhöhen und neue Methoden einzusetzen. SPD-Parteichef Willy Brandt wechselte vom Amt des Regierenden Bügermeisters von Berlin ins Bonner Außenamt und brachte Karl Schiller als Wirtschaftsminister mit. Der wurde bald der Star des Kabinetts und brachte eine Fülle neuer Vokabeln unters Volk - von "Mifrifi" (Mittelfristiger Finanzplanung) bis zum "Magischen Viereck" der Ökonomie (Vollbeschäftigung, Preisstabilität, Wirtschaftswachstum, ausgeglichene Außenwirtschaft).

Herbert Wehner, der grimmige SPD-Machtstratege, wurde Minister für Gesamtdeutsche Fragen, also zuständig für die Beziehungen zur DDR. Während der gern unverbindlich redende Kanzler als "König Silberzunge" bespöttelt wurde, konnte sich der seit 1961 geächtete Franz Josef Strauß im Glanz Schillers als Finanzminister politisch rehabilitieren. Die beiden rivalisierten - frei nach Wilhelm Busch - als "Plisch und Plum".

Die Wirtschaftskrise wurde überraschend schnell bewältigt. Nach dem schnellen Anstieg im Herbst 1966 betrug die Zahl der Arbeitslosen im Frühjahr 1967 fast 700000. Im Sommer ging sie zurück, so dass im Jahresmittel etwa 460000 Menschen arbeitslos waren, 1968 noch 325000, 1969 weniger als 180000.

Das machte Eindruck. Schillers "aufgeklärte Marktwirtschaft" beseitigte Probleme, die Erhard nicht hatte lösen können. Mehr Planung und der Griff in den Staatssäckel, so schien es lange, waren effektiver als das Streben nach ausgeglichenen Haushalten. Neue Gesetze erzwangen ein Miteinander von Bund, Ländern und Gemeinden in so genannten Gemeinschaftsaufgaben. Erst viele Jahre später schärfte die ständig wachsende Staatsverschuldung den Blick dafür, wie sehr der Mischmasch die Verantwortungslosigkeit auf allen politischen Ebenen gefördert hatte.

1968/69 war Schillers "Globalsteuerung" das große Thema. Die Enttäuschungen der 70er Jahre waren noch Zukunft. Die ganz großen Ausgabe-Steigerungen kamen auch erst später. Am 2. Oktober 1966, kurz vor Erhards Rücktritt, waren in Bund, Ländern und Gemeinden knapp 807000 Beamte und Richter tätig. Drei Jahre später, am Ende von Kiesingers Kanzlerschaft, waren es fast 880000. Die langfristigen Schulden des Bundes stiegen in der gleichen Zeit von 37 auf mehr als 48 Milliarden Mark - verglichen mit heute trotz allem fast idyllische Zahlen.

Schillers Erfolg beflügelte die SPD. Sie führte in der Wirtschaftskompetenz. Sie ließ sich vom Wandel des Lebensgefühls stärker mitreißen als die Union, war die Partei der Städte und der jungen, nach besseren Abschlüssen strebenden Menschen. Die alte Arbeiterpartei stand für neue Chancen und für Aufbruch. Ihr Vorsitzender Willy Brandt propagierte eine neue, auch nach Osten offene Politik. Die Bremser dagegen gehörten zur Union. Die ließ sich für Ungleichheit und Ungerechtigkeit verantwortlich machen - und hielt dafür oft genug den Kopf bereitwillig hin: Denn das neue Lebensgefühl hatte ja keineswegs die gesamte Gesellschaft ergriffen.

Union und SPD hatten vereinbart, für den Fall eines Angriffs von außen - der damals noch nicht ausgeschlossen war - Notstandsgesetze zu verabschieden. Bei vielen jungen Leuten weckte das Erinnerungen an die Nazi-Zeit, deren kritische Aufarbeitung damals neue Impulse erhielt. Die Union verteidigte das Vorhaben, die SPD signalisierte Bauchweh, auch wenn sie schließlich den Gesetzen zustimmte.

Sie profitierte von der polarisierten Wahrnehmung der Nazi-Vergangenheit: hier das ehemalige NSDAP-Mitglied Kiesinger als Kanzler, dort der ins Exil geflüchtete Brandt als in seinen Aktivitäten gebremster Außenminister. In diesem Kontext konnte die DDR-Propaganda durch Fälschungen Bundespräsident Heinrich Lübke (CDU) als "KZ-Baumeister" hinstellen. Brandt, so berichtet der Chronist Arnulf Baring, betrachtete Kiesinger vor allem als ehemaligen Nazi, auch wenn ein Beleg aus dem "Spiegel"-Archiv zeigte, dass Kiesinger NS-Aktivitäten im Außenministerium behindert hatte. Über den Parteifreund Karl Schiller, ebenfalls ehemaliges NSDAP-Mitglied, sagte Brandt dagegen später: "Den mochte ich wirklich."

Nachdem am 2. Juni 1967 im SPD-regierten Berlin der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen worden war, wuchs im ganzen Land die außerparlamentarische Opposition. Rudi Dutschke diffamierte "das System" als Apparat zur Unterdrückung freier Menschen. Doch als Ostern 1968 Dutschke selbst Opfer eines Attentats wurde, gelang der SPD eine Geste der Glaubwürdigkeit. Während der Kanzler Dutschkes Frau Gretchen ein Telegramm der Anteilnahme geschickt hatte, setzte Justizminister Gustav Heinemann (SPD) ein anderes Signal. Er sprach öffentlich davon, drei Finger einer Hand wiesen auf den zurück, der mit dem Zeigefinger auf einen anderen hinweise. Das wurde als öffentlich bekundete Bereitschaft zur Partei-Selbstkritik gewertet.

Einen großen Schub brachte der August 1968. Die Truppen des Warschauer Pakts zerschlugen in der Tschechoslowakei den "Prager Frühling", also die Hoffnung auf einen liberalen Kommunismus. Damit zerrann für viele Junge, die große Veränderungen mit manchmal religiöser Inbrunst wünschten, eine Illusion. Die bei Studenten zeitweise einflussreichen Kommunisten wurden zu Splittergruppen. Nach der neu aufgestellten FDP verzeichnete die SPD einen riesigen Zustrom neuer Mitglieder.

Die Bundespräsidentenwahl im Frühjahr wurde zum Test für die neue Nähe von SPD und FDP. Die SPD nominierte Gustav Heinemann, der auf Umwegen von der CDU in die SPD gekommen war. Heinemann, der sich knapp gegen Gerhard Schröder (CDU) durchsetzte, war fast 70 Jahre alt, aber er hatte ein Ohr für die Jugend. Nach der Wahl fiel zum ersten Mal das Wort "Machtwechsel".

Der vollzog sich dann Ende September 1969. Zwar blieb die Union bei der Bundestagswahl stärkste Partei, aber SPD und FDP hatten eine kleine Mehrheit. Gegen die Bedenken von Herbert Wehner und Fraktionschef Helmut Schmidt, die die Große Koalition fortsetzen wollten, vereinbarten Willy Brandt und der FDP-Vorsitzende Walter Scheel das Zusammengehen. Es begann das sozialliberale Jahrzehnt.

(RP)
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