20 Jahre Mauerfall - die Reise (6) Die Lausitz wird zur Seenplatte

(RP). Tagebau, Braunkohle-Kraftwerke, Brikettfabriken und Kokereien haben lange den deutschen Teil der Lausitz geprägt. Seit der Wende hat sich die Landschaft zwischen Cottbus und Görlitz verändert wie kaum eine andere. Und auch für die Technikgiganten des Bergbaus hat sich die Nutzung geändert.

Sein Dorf hat er selbst weggebaggert. Michael Richter war "in der Kohle", wie so viele in der Lausitz. Im 1000-Seelen-Dörfchen Bergheide sicherte die Braunkohle ein gutes Auskommen. Irgendwann kamen die Bagger immer näher. Mit der "Einsicht in das Notwendige", die ein DDR-Bürger von Kindesbeinen an verinnerlicht hat, sind 1987 auch die letzten Bergheider umgezogen. Das nahe Städtchen Finsterwalde bot moderne Wohnungen in der Platte statt alter Häuschen auf dem Land, da gab es auch ein Kino. Und für Michael, damals Anfang 20, und seine Freunde "war es schon freizeitmäßig eine Verbesserung — uns machte der Umzug nichts aus".

Richters Opa ist ein Jahr später in Finsterwalde gestorben. 87 war er da — in Bergheide, ist der Enkel sicher, wäre der Großvater noch älter geworden. Das Dorf war da schon nicht mehr da. Als fünf Jahre danach der Tagebau verschwand, da hatte auch Michael Richter ein bisschen "das Gefühl, es war alles umsonst".

Die DDR hatte alles getan für die Kohle. Kohle garantierte Unabhängigkeit von den OPEC-Staaten und dem großen Bruder Sowjetunion. Erst recht, als sich nach dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow das Klima zwischen Moskau und Ost-Berlin verschlechterte. Die Kohle musste raus, koste es, was es wolle. Geld war längst nicht mehr in der Staatskasse, als 1988 der volkseigene Betrieb Takraf (Tagebau-Ausrüstungen, Krane und Fördersysteme) in Lauchhammer den Auftrag zum Bau einer Förderbrücke mit 60 Meter Abtragsmächtigkeit (F 60) erhielt. Die Kosten dafür sind nirgendwo notiert. "Um die 700 Millionen D-Mark", schätzt André Speri, wird die Brücke aus 13 600 Tonnen Stahl schon gekostet haben, die 1991 den Betrieb in der Gemeinde Lichterfeld aufnahm.

Speri hat mit Bergbau nichts am Hut. Er hat auf Lehramt studiert, in Leipzig, als die Montagsdemos anfingen. Nach der Wende ist er Immobilienmakler geworden. Und eines Tages stand er auf der Suche nach Bauland vor dem Stahlkoloss, auf dem er heute die Geschäfte der F 60 Concept GmbH führt.

Als Besucherbergwerk hat die F 60 gute Chancen, dem Schicksal zu entgehen, das einer Förderbrücke vorgegeben ist. Die stählernen Riesen schleppen bis zu 30 Jahre lang Zigtausende Kubikmeter Abraum über die Braunkohlehalden, und wenn die Kohle weg ist, "werden sie gesprengt". Das wird den vier Schwester-Brücken, die in der Nachbarschaft noch arbeiten, genauso gehen. Und es war auch für die F 60 von Lichterfeld-Schacksdorf geplant.

"Die Bürger hatten damit kein Problem", sagt Speri, der versteht, dass die Menschen in der Lausitz zu Förderbrücken im Allgemeinen kein besonderes Verhältnis hatten: "Die waren laut und machten Dreck." Und für Leute wie Michael Richter ist die F 60 auch bloß ein Arbeitsgerät gewesen, das nach dem Ende des Tagebaus überflüssig war. Schönheit und Ästhetik, wie sie Speri sieht, kann Richter ihr noch immer nicht wirklich abgewinnen.

Nach dem Ende des Tagebaus Klettwitz-Nord gingen mit Richter rund 2000 Bergleute in Auffanggesellschaften oder den Stahlbau, bevor auch da nach sechs Jahren Ende war. Ungefähr zu dieser Zeit hatten sich ein paar "Visionäre", wie Speri sie nennt, gefunden, um die Lichterfelder Brücke zu retten. Eine Landschaftsarchitektin war die Erste, die eine touristische Nutzung vorschlug. "Die Leute, die im Bergbau gearbeitet hatten — die haben uns dafür die Pest an den Hals gewünscht", sagt Speri.

Aber dann hat die Idee doch eine Mehrheit gefunden, die Gemeinde Lichterfeld hat die Brücke gekauft und sie zur Internationalen Bauaustellung "IBA Fürst-Pückler-Land" angemeldet, die sich nach dem Vorbild der "IBA Emscher-Park" bis 2010 mit der Gestaltung der Lausitz befasst.

Inzwischen sind die Pläne weit gediehen. Der 360 Hektar große See, den die Lausitz Mitteldeutsche Bergbauverwaltung (LMBV) in der Kohlebrache angelegt hat, ist schon ziemlich voll, die Standorte für einen kleinen Hafen, für Campingplatz und Ferienhäuser sind festgelegt. In drei Jahren soll der See, der aus der Schwarzen Elster geflutet wird, seinen Pegelstand erreicht haben. Dann sollen die Feriengäste in schwimmenden Häusern darauf übernachten, auf dem weißen Sandstrand Partys feiern, und zu Füßen der F 60 soll eine mit Solarzellen ausgestattete "Sonnenkuppel" ein schwimmendes Restaurant überdachen.

Die Katastrophe von Nachterstedt, wo kürzlich im renaturierten Tagebau die Uferbebauung in einen künstlichen See rutschte, hat daran nichts geändert. "Die geologischen Gegebenheiten sind bei uns völlig andere", sagt Speri zuversichtlich. Zum einen, weil es in der Lausitz nur wenig Untertagebau gegeben hat. "Unter unserem Boden sind keine Stollen. Und gebaut wird bei uns sowieso nur auf gewachsenem Boden." Außerdem habe die LMBV, die den gesamten Bergbau in den neuen Bundesländern verwaltet, von Anfang an darauf geachtet, die Uferkanten immer neu zu verdichten, und steile Kanten wie in Nachterstedt gibt es in Lichterfeld auch nicht. Schon deshalb, sagt Speri, habe hier niemand Angst. Einzige Folge der Katastrophe: In einigen unbefestigten Ufer-Bereichen, auf denen vor kurzem noch Quad- und Motocrossfahrer den sandigen Boden durchpflügten, warnen heute Schilder vor "Lebensgefahr".

Mit den Geländetouren wäre sowieso Schluss gewesen, sobald die Feriensiedlung steht. Und dass es dazu kommt, bezweifelt Speri nicht. Kein Investor habe nach Nachterstedt das Interesse verloren. Und auch die Events, die seine Firma regelmäßig an der F 60 organisiert, sind immer noch gut besucht. Heavy-Metal-Konzerte passen gut zu dem stählernen Riesen, auch ein Techno-Festival hat es schon gegeben. Und als Max Raabe mit seinem Salonorchester vor der gigantischen Kulisse spielte, war es das zweiterfolgreichste Konzert seiner Tournee. "Das lebt vom Kontrast", sagt Speri, von dem viele Ideen stammen und der damit auch schon Pech hatte: Die Drahtseil-Nummer der Motorradartisten Traber hat kaum jemanden an die F 60 gelockt. "Die können die Leute auf jedem Stadtfest umsonst sehen" — diese Erfahrung hat Speri viel Geld gekostet.

Verlässliche Einnahmen gibt's von Kletterprofis. Die F 60 — mit 502 Metern Länge und 80 Metern Höhe auch gerne "liegender Eiffelturm" genannt — dient Spezialeinsatzkommandos der Polizei, Höhenrettern und Montagefirmen als Trainingsgelände. Und wenn im Advent der Turmbläser auf der Brücke steht, ist der Vorplatz immer voll. Ein Berliner Künstler hat eine Licht- und Klanginstallation geschaffen, die jedes Wochenende neue Bewegung in den Technikgiganten zu bringen scheint, der nun tatsächlich so etwas wie das weithin sichtbare Wahrzeichen der Lausitz geworden ist.

Es hätte auch anders kommen können, sagt Speri. "Wäre der Schrottpreis vor neun Jahren so astronomisch gewesen wie noch vor kurzem — dann hätte man die Brücke womöglich nach China verkauft." Glück gehabt, sagt der Ex-Lehrer, dem der Bergmannsgruß "Glück auf" längst mühelos über die Lippen kommt.

Bergmann Michael Richter ist heute gern Museumsführer. Die F 60, sagt er, ist eine Art lebendes Denkmal und für ihn und andere ehemalige Kumpel die Gelegenheit, ihr Wissen weiterzugeben. "Die Kinder unserer Kinder werden schon nicht mehr wissen, dass es einmal Tagebau gab und wie der funktionierte."

Unten im See entsteht ein weiteres Denkmal, halbwegs natürlich sozusagen: Auf dem Grund haben die Landschaftsbauer eine Insel angelegt, mit den Umrissen des Dörfchens Bergheide. So wird es nie ganz untergehen.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort