Groko-Vertrag Merkel toleriert SPD-Regierung

Meinung | Berlin · Nach zähen Verhandlungen steht der Vertrag für die neue Groko. Der Kanzlerin macht den Genossen viele Zugeständnisse. Ein Problem: Viele Beschlüsse sind frei interpretierbar. Das dürfte schnell Ärger geben.

 Angela Merkel zahlt für die Neuauflage der großen Koalition einen hohen Preis.

Angela Merkel zahlt für die Neuauflage der großen Koalition einen hohen Preis.

Foto: ap, FO

Drei Begriffe stehen in diesem Koalitionsvertrag ganz vorne. Dynamik. Aufbruch. Zusammenhalt. Wer die jüngsten Auftritte von Martin Schulz, Angela Merkel und Horst Seehofer (Durchschnittsalter: 64,3 Jahre), das mögliche neue Kabinett und das Gerangel um die Interpretationen der Beschlüsse erlebt hat, dem fallen viele Begriffe ein, aber nicht diese.

Doch der Reihe nach. Es kommt auf die Inhalte an, heißt es. Die lassen sich mit einem alten Willy-Brandt-Bonmot zusammenfassen: links und frei. Der Koalitionsvertrag atmet den Geist der Bewahrung, der Besänftigung von Bevölkerungsgruppen, des Etatismus. Da steckt viel mehr SPD drin, als die 20 Prozent der Partei erahnen lassen würden. An anderen Stellen sind Beschlüsse so frei interpretierbar, dass Konflikte vorprogrammiert sind.

Man wollte vielen helfen

CSU-Chef Horst Seehofer hat es ja zugegeben. Man wollte Gutes tun für die Unzufriedenen im Land. Also schüttet diese Koalition Milliarden aus für Eltern, Rentner, Mütter, Pflegende, Versicherte, Bahnreisende, Autofahrer. An strukturelle Fragen zur Wettbewerbsfähigkeit des Landes traut sie sich nicht, mal abgesehen von der sinnvollen Abschaffung des Kooperationsverbots. Eine Steuerreform, die Leistung belohnt, bleibt auch in Zeiten von Rekordeinnahmen aus. Der Solidaritätsbeitrag wird für viele, aber eben nicht für alle abgeschafft. Und dies erst 2021, obwohl der Solidarpakt schon 2020 ausläuft. Die überproportional steigende Steuerlast bei Lohnzuwächsen ("kalte Progression") wird nur überprüft, eine Reform der Mehrwert- oder der Gewerbesteuer gar nicht erst angetastet.

Wo ist die schwäbische Hausfrau?

Die Förderung von Forschung und Entwicklung bleibt vage. Dafür dürften in den kommenden Jahren allen Unkenrufen zum Trotz die Sozialbeiträge steigen, anders lassen sich die sozial- und rentenpolitischen Versprechen nicht finanzieren. Dynamik? Aufbruch? Sicher, die Akzente in der Bildungspolitik sind gut. Es ist auch richtig, dass Auswüchse bei befristeten Jobs zurechtgestutzt werden. Aber warum führt eine CDU-Kanzlerin nur neue Subventionen ein, vom Baukindergeld bis zur Grundrente. Eine alternde Gesellschaft braucht eine leistungsfähige Basis. Es können auch wirtschaftlich schlechte Zeiten kommen. Der Begriff "Konsolidierung" kommt im Koalitionsvertrag im Zusammenhang mit der Finanzpolitik an keiner Stelle vor. Angela Merkel hat sich als Klimakanzlerin bereits verabschiedet. Nun wirft sie auch ihr Leitbild der schwäbischen Hausfrau über Bord, das sie einst als Motiv für ihre Finanzpolitik prägte. Warum wird nur über mehr Geld für Europa gesprochen anstatt darüber, wie bestehende Budgets wirksam für Zukunftsbereiche eingesetzt werden können? Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ist richtig, aber warum haben Millionen Haushalte und Unternehmen keinen Rechtsanspruch auf schnelles Internet? In der Sozialpolitik wird geklotzt, bei Zukunftsthemen wird es knauserig. Und dass Peter Altmaier zuletzt durch wegweisende ordnungspolitische Ideen aufgefallen wäre, würde nicht einmal er selbst behaupten. Nun wird er Nachfolger von Ludwig Erhard.

Vieles bleibt sehr vage

Links und frei. Viele Beschlüsse sind frei interpretierbar. Während die Union vom Ende des Familiennachzugs spricht, redet die SPD von der Wiedereinführung. Die CSU bekommt die Obergrenze bei der Zuwanderung, die SPD verweist auf das Grundrecht auf Asyl, das keine Grenzen kennt. Die SPD spricht vom Einstieg in die Bürgerversicherung, die CDU von der Absage an das Einheitssystem bei der Gesundheit. Das dürfte vier Jahre kaum gut gehen. Diese Partner wollen offensichtlich nicht vertrauensvoll miteinander arbeiten.

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Angela Merkel kann froh sein, dass ihre Parteibasis nicht über den Vertrag abstimmen muss. Die CDU-Vorsitzende hat der SPD mit dem Außen-, dem Finanz- und dem Sozialressort die Schlüsselressorts überlassen. Beim Umbau Europas redet künftig die SPD ein gewichtiges Wort mit, von einem "Richtungswechsel" in der Europapolitik war gestern die Rede. Wer die SPD kennt, ahnt, dass es um viel mehr Geld für Europa geht. Die Mehrheit der Deutschen fürchtet aber eine Transferunion in Europa. Angela Merkel offenbar nicht.

Mit dem pragmatischen Hanseaten Olaf Scholz zieht immerhin ein Sozialdemokrat in das Finanzministerium ein, der sich an Helmut Schmidt, nicht an Ralf Stegner orientiert. Man sollte Scholz auch in der SPD-internen Hierarchie nicht unterschätzen. Wenn er einen guten Job macht, könnte er 2021 auch Kanzlerkandidat der Partei werden. Und Martin Schulz? Der macht den Westerwelle. Er klammert sich an das Amt, das Popularität verspricht, und gibt dafür den Parteijob und Glaubwürdigkeit ab. Anstatt die Basis zu befrieden und sich durch die Kärrnerarbeit neue Reputation zu erarbeiten, geht er ins Kabinett. Dahin, wo er nie hin wollte. Eine beispiellose Kehrtwende.

Die Bundeskanzlerin wird künftig die Leitlinien der Politik mit Frau Nahles und Herrn Scholz besprechen. Es sind sozialdemokratische Leitlinien, wenn man den Koalitionsvertrag genau liest. Diese SPD-Regierung wird von Angela Merkel toleriert.

(brö)
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