Essay Die neuen Deutschen kommen

Düsseldorf · Die Flüchtlinge sind auch Boten einer Krise, die uns zum Nachdenken zwingt: über die Zukunftsfähigkeit einer Konstruktion, die wir Nation nennen. Andere Begriffe könnten nun in den Mittelpunkt rücken: Bräuche, Sitten und Tradition. Kurzum: Heimat.

 Flüchtlinge in Bayern. Das Bild stammt aus dem November 2015.

Flüchtlinge in Bayern. Das Bild stammt aus dem November 2015.

Foto: dpa, Montage: RP

Vielleicht ist das, was seit 1990 jährlich gefeiert wird, schon jetzt eine Sache mühsam erinnerter Geschichte. Zwar dokumentiert der 3. Oktober mit dem Ende einer Parteien-Diktatur auch das glückliche Ende der deutschen Teilung ; doch wurde damit zugleich etwas wiedergeboren, was mehr und mehr wie ein Relikt des 19. Jahrhunderts anmutet: die Nation.

Dabei hat Deutschland seit Mauerfall und baldiger Einheit eifrig normale Nation geübt - mit allerlei Geschick und beachtlichem Erfolg: Das sogenannte deutsche Sommermärchen zeigte, dass ein massenhaftes Schwenken von Deutschland-Fähnchen nicht unbedingt etwas mit einem neuen nationalen Chauvinismus zu tun haben muss. Und in musterschülerhafter Bescheidenheit sind wir dann nicht einmal Weltmeister geworden! Zudem scheint deutsche Abstammung auch kein Hindernis mehr zu sein, höchste moralische Ämter zu bekleiden (wie es der Philosoph Peter Sloterdijk formulierte): belegt mit der von Papst Benedikt.

Das soll nun alles für die Katz' gewesen sein? Die Krise der Nation ist kein ausschließlich deutsches Problem. Die Demontage des Nationalstaates und mit ihr der Machtzerfall oder Relevanzverlust der Parlamente ist vor allem eine Folge der Globalisierung. Martialische Begrifflichkeiten wie die "Festung Europa" erinnern eher an koloniale Restbestände. Aber: "Es gibt keine leeren Gebiete mehr auf dem Planeten, die man kolonisieren könnte", schreibt einer der vielleicht weitsichtigsten Denker unserer Zeit, der schon 90-jährige Philosoph Zgymunt Bauman, in seinem neuen Essay "Die Angst vor den anderen". Vielmehr hat die Globalität - die nicht mehr rückgängig zu machen ist - die gesamte Menschheit in eine umspannende und wechselseitige Abhängigkeit gehoben. Ihre Wahl zwischen Aussterben und Überleben wird nach seinen Worten im Wesentlichen von der Fähigkeit abhängen, künftig auf engstem Raum zusammenzuleben - in Frieden und Solidarität, in Kooperation und inmitten von Fremden, die keine Fremden mehr sein werden.

Die Angst vor einem Ende dessen, was wir bisher als Nation bezeichnet haben, ist groß; und sie ist ablesbar an Gegenreaktionen wie in der Wiederkunft des starken Mannes. Politiker mit derlei Ambitionen sind in Ländern wie den USA, Russland, Polen, Ungarn, Türkei, Österreich wenigstens populär oder an der Macht, flankiert von starken neuen oder extrem rechten Bewegungen wie aktuell in Frankreich und Deutschland.

Eine Sprache, eine Herkunft, ein Glauben - eine Illusion

Die Wahlerfolge fremdenfeindlicher und unverhohlen chauvinistischer Parteien sind inzwischen ein Zeichen der Zeit und mehr als das Ergebnis von Protestwahlen. Von ihnen verspricht man sich die Bewahrung eines Lebenszustandes, den es so schon lange nicht mehr gibt: eine homogene Gesellschaft. Eine Sprache, eine Herkunft, ein Glauben - die Vorstellung einer scheinbar unvermischten Nation war früher schon eine Illusion. Sie ist es in Deutschland mehr denn je: Knapp zehn Millionen Menschen mit deutschem Pass haben inzwischen einen Migrationshintergrund.

Das Schicksal moderner Gesellschaften ist nach den Worten des britischen Historikers Eric Hobsbawm die Koexistenz vieler Minderheiten. Eine Nation sei keine zusammenhängende Landmasse mehr; sie bestehe aus einem Archipel etlicher kleiner Inseln. Die, die an einer ethnischen Geschlossenheit des Volkes weiterhin hängen und sich nichts anderes vorstellen wollen, nennt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler "die alten Deutschen". Von den neuen Deutschen gibt es dann zwei Typen: nämlich die Neuankömmlinge, die sich noch entscheiden müssen, ob sie Deutsche werden wollen; sowie jene, die auf ein weltoffenes Deutschland setzen, nicht mehr auf eine ausschließlich ethnisch definierte Nation.

Noch sind es zu große, eher abstrakte Worte, mit denen eine solche Zukunft beschrieben wird - wie Weltwirtschaft, Weltrecht und Weltgesellschaft. Doch wird Nationale stärker als Paradox beschrieben und eine "transnationale Angehörigkeit" als Voraussetzung einer Mobilität über Grenzen hinweg gesehen.

In welchem Jahr schlägt die deutsche Stunde?

Die Frage nach der Nation ist eine immer noch unerhörte Frage, und sie stellt sich in fast allen europäischen Ländern noch deutlich weniger als bei uns. Denn obgleich alle spüren, dass die historischen Wurzeln des Deutschen tief gründen und seinen Namen der Kultur - genauer: der Sprache verdankt, so gehört Deutschland doch zu den jüngsten Nationen, die ohne echten Gründungsmythos auskommen muss. Schlägt die Stunde unserer Nation mit der Paulskirche 1848? Der Einheit von oben 1871? Mit der ersten Republik zu Weimar und der Verfassung 1919? Mit der bundesrepublikanischen Grundgesetz-Verkündigung 1949? Oder gar erst mit der Einheit vom 3. Oktober 1990?

Eine Nation wird nicht von heute auf morgen fraglich. Obgleich immer deutlicher wird, dass solche Staatsgebilde mit den Aufgaben, mit denen uns die Globalisierung und eine noch deutlich zunehmende Migration weltweit konfrontieren wird, schon jetzt überfordert ist. Offenbar gibt es Grenzen nationaler Wirkens. Wobei auf die Überforderung der Nation nicht mit Einigelung und einem noch stärkerem Staat reagiert werden kann.

Das Ende von Nationen im bisherigen Verständnis ist nicht das Ende von Verwurzelung und regionaler Identität. Die Rückkehr eines positiven Empfindens für Heimat ist spürbar. Das ist kein Rückzug aufs bekannte und vertraute Inselchen. Es ist die unverkrampfte Besinnung auf Herkunft. In Bräuchen, Sitten und Traditionen spiegelt sich nichts Reaktionäres, sondern der Wille und das Bekenntnis zur Gemeinschaft. Heimat, so heißt es, ist dort, wo man nicht nach dem Weg fragen muss. Sie ist ein Versprechen auf Beständigkeit. Es werden künftig vielleicht solche kleinen Dinge sein, die Sicherheit geben.

(los)
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