Die Bürgerbewegungen der DDR Die vergessenen Helden von 1989

Berlin · Mit dem Mauerfall begann vor 25 Jahren der Untergang der DDR. Weil die Sowjetunion kein Geld mehr hatte, um den kleineren deutschen Staat zu erhalten. Und weil Gruppen wie das Neue Forum so mutig waren.

"Neues Forum": Der Lebensweg der Akteure von damals
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Für Helmut Kohl, den "Kanzler der Einheit", war es das schnöde Geld, das vor einem Vierteljahrhundert das Ende der DDR einleitete. Sowjetchef Michail Gorbatschow habe schlicht "kein Bimbes mehr" gehabt, wie der Pfälzer seinem Ghostwriter Heribert Schwan aufs Band sprach. Rückblickend meinte Kohl Anfang des Jahrhunderts, die Darstellung, dass das Volk auf der Straße das Ende der DDR entschieden habe, sei lediglich dem "Volkshochschulhirn" des SPD-Politikers Wolfgang Thierse entsprungen. Ein Schlag ins Gesicht der Bürgerbewegung?

"Macht, was ihr wollt", soll Gorbatschow Kohl gesagt haben. In der Tat machten viele DDR-Bürger vom Spätsommer an tatsächlich, was sie wollten. Zu Hunderten, später zu Zehntausenden strömten sie über die sozialistischen "Bruderländer" in die Freiheit und verstärkten den Druck auf die DDR-Staatsführung. Sie erhöhten damit zweifellos den Druck auf die Mauer. Die wesentliche Vorbedingung lag darin, dass die Menschen ab Oktober keine Angst mehr hatten vor der Obrigkeit — vielleicht, weil sie spürten, dass diese wegen fehlender Direktiven aus Moskau selbst die Orientierung verloren hatte.

"Da wurden 30 Leute handverlesen zusammengetrommelt"

Kohls Mission kam später, und auch diese war getrieben von der Straße. Eilig beschrieb er einen Weg, in dem die deutsche Einheit als Fernziel am Horizont auftauchte, auf dem er es aber schon als gewagt darstellte, "konföderative Strukturen" zu schaffen, also einen Staatenbund. Die Montagsdemos waren schneller als er, hatten vor ihm beschlossen, dass es binnen Monaten von der demokratischen Teilhabe ("Wir sind das Volk") zur Einheit ("Wir sind ein Volk") gehen müsse. Ohne Kohls geschicktes Agieren und seine Vertrauensstellung bei den wichtigsten Akteuren wäre es nicht so schnell, vielleicht auch gar nicht so verlaufen.

Aber ohne die unermüdlich antreibende Bürgerbewegung wäre auch Kohl nicht der "Kanzler der Einheit" geworden, hätte die Staatspartei die Situation in der DDR vielleicht wieder in den Griff bekommen. Rückblickend ist es faszinierend, dass die Staatssicherheit der DDR damals gerade einmal 500 Personen als Oppositionelle einstufte, davon lediglich 200 als harte, politisch aktive Gegner des Regimes.

Möglicherweise traf diese Analyse sogar zu. Doch das Regime hatte übersehen, was auch kleine und kleinste Gruppen auszulösen vermögen, wenn die Stimmung im Volk jeden passenden Vorschlag wie ein Schwamm aufsaugt und ins Gigantische vergrößert. Die ersten Montagsdemonstrationen hatten bereits stattgefunden, als mehrere Regimegegner erkannten, dass der Protest ein Sprachrohr braucht.

Die Berliner Mauer teilte die Stadt
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Bärbel Bohley, die sich seit Langem in der Friedensbewegung der DDR engagierte, Katja Havemann, Witwe des jahrelang unter Hausarrest stehenden Regime-Kritikers Robert Havemann, der Rechtsanwalt Rolf Henrich, der Molekularbiologe Jens Reich, der Physiker Sebastian Pflugbeil und andere gründeten am 9. September in der Nähe von Berlin das "Neue Forum". Pflugbeil erinnert sich: "Da wurden 30 Leute handverlesen zusammengetrommelt, aus verschiedenen sozialen Schichten, aus verschiedenen Bezirken, damit das so einigermaßen repräsentativ war. Und dann entstand eine Seite Text, mit der Schreibmaschine abgetippt, an ein paar Freunde verschickt."

Ein "demokratischer Dialog" wird gefordert

Der Text verbreitete sich in Windeseile und brachte eine Lawine ins Rollen. 3000 Unterschriften gab es bereits, als die Behörden das Neue Forum nach wenigen Tagen als "staatsfeindlich" einstuften. 200.000 Unterstützer waren es einige Wochen später. "In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört", beginnt das Schreiben, das mit "Aufbruch 89 — Neues Forum" überschrieben ist. Es ist keine Kampfansage an die Machthaber, im Gegenteil: Es ist der Versuch, den Bürgern ein Angebot zu machen, über die offenkundigen Probleme im Land zu diskutieren.

Helmut Kohl – Bilder aus seinem Leben
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Leseprobe nach einem Vierteljahrhundert: "Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übelgelaunter Passivität und hätten doch Wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit", heißt es.

Die Bürgerrechtler wünschen sich "wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft". Man fordert einen "demokratischen Dialog", um das Land zu verbessern, nicht um es in seiner Existenz infrage zu stellen. Die Gründer des Bündnisses agieren genauso vorsichtig wie klug.

"Eine Bewegung erweist sich als erfolgreich, wenn sie zerfällt"

Spät erkennen die Machthaber, welche Chancen das Forum schon kurz nach der Gründung zur Kanalisierung des Protestes geboten hätte. Einen Tag vor Öffnung der Mauer wird das Neue Forum zugelassen. Längst war dieser Schritt zur Forderung der Massendemonstrationen geworden. Zur Massenbewegung brachte es das Bündnis aber nie. Mit den neuen Freiheiten brachen sich neue Bedürfnisse Bahn, ging es nicht mehr nur um demokratische Teilhabe, sondern auch um Zugänge zum westdeutschen Wohlstand. Die Alternative war: Entweder kommt die D-Mark zu uns, oder wir gehen zur D-Mark.

Viele Akteure von damals sind enttäuscht, dass "der Geist von 89" so schnell wieder verschwunden ist. Bärbel Bohley hat es auf die Formel gebracht: "Eine Bewegung erweist sich als erfolgreich, wenn sie zerfällt." Doch nicht die unauffälligsten Spuren finden sich heute noch in der deutschen Politik. Dass die Grünen "Bündnis 90" als ersten Teil ihres Parteinamens haben, erinnert an das vom Neuen Forum mitbewirkte Wahlbündnis 1990. Und einer der ersten Abgeordneten des Neuen Forums in der DDR-Volkskammer dürfte den meisten Deutschen bekannt sein: Es ist Bundespräsident Joachim Gauck.

(rl, may-)
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