Aussagen auf dem Prüfstand Die Wahrheiten des Thilo Sarrazin

Berlin (RP). Berlins ehemaliger Finanzsenator, Thilo Sarrazin, hat mit einem Interview, in dem er gegen Ausländer und Hartz-IV-Bezieher wettert, für Empörung gesorgt. Wir haben seine Behauptungen nachgeprüft.

Thilo Sarrazin liebt klare Worte
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Foto: AP

Berlins ehemaliger Finanzsenator Thilo Sarrazin gilt als Rhetorik-Rambo. In seinem jüngsten Interview in der Kulturzeitschrift "Lettre International” rechnet er mit der Berliner "Unterschicht” ab. Für seine Äußerungen hat er sich zwischenzeitlich entschuldigt. Ob er seinen Job als Vorstandsmitglied der Bundesbank behalten kann, ist offen. Viele von Sarrazins Äußerungen in dem fünfseitigen Interview sind umstritten. Ein Faktencheck:

Aussage 1: Berlin habe "einen Teil von Menschen, etwa 20 Prozent der Bevölkerung, die ökonomisch nicht gebraucht werden, 20 Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen, bundesweit sind es nur acht bis zehn Prozent.”

Der Faktencheck: Das ist richtig. Jeder fünfte Berliner ist auf Leistungen wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe angewiesen. Bundesweit liegt die Zahl der Transferempfänger allerdings etwas höher als Sarrazin meint, bei 10,1 Prozent.

Aussage 2: "Es gibt auch das Problem, dass 40 Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden.”

Der Faktencheck: Wenn man zur "Unterschicht” jene Familien zählt, die von Hartz-IV-Leistungen leben, dann ist Sarrazins Aussage nur leicht übertrieben. 37,1 Prozent der Kinder in der Hauptstadt unter 15 Jahren haben Eltern, die von Hartz-IV-Leistungen leben.

Aussage 3: "Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung.”

Faktencheck: Nach einer Studie des Berlin Instituts für Bevölkerungsforschung gelten die Türken als die Zuwanderergruppe, die sich am schwersten integrieren lässt. Bei den Arabern in Berlin machen kriminelle Familienclans den Behörden zu schaffen. Für die Zahlenangaben Sarrazins, dass sich 70 Prozent der Türken und 90 Prozent der Araber nicht integrieren und vom Staat leben, fehlen die Belege. Von den Türken in Berlin leben 40 Prozent von Transferleistungen. Die schwer zu integrierenden Ausländer sind nur ein Teil der Wahrheit. Von den Zuwanderern aller Volksgruppen in Berlin haben 43 Prozent Abitur und 39 Prozent einen Hochschulabschluss.

Aussage 4: "Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel.”

Faktencheck: Türkische Unternehmen setzen in Berlin jährlich 3,5 Milliarden Euro um. Das türkische Berliner Branchenverzeichnis zählt 100 Lebensmittel-Einzelhandelsgeschäfte. Aber beispielsweise auch 36 Fleischereien, 39 Döner-Produktionen, 41 Rechtsanwälte und 78 Reisebüros. Richtig aber ist, dass die Türken in Berlin, die Arbeit haben, zu 60 Prozent in Jobs für Geringqualifizierte arbeiten.

Aussage 5: "Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.”

Faktencheck: Der Vergleich ist schief. Die Bevölkerungsentwicklung der Kosovaren ist Teil ihrer Unabhängigkeitsbestrebung. Davon kann bei den Türken in Deutschland keine Rede sein. Wenn man nach Parallelen zwischen den Türken in Deutschland und den Kosovaren im Kosovo sucht, findet man patriarchalische Familienstrukturen und in der Tat eine relativ hohe Geburtenrate. Allerdings liegt die Geburtenrate der Türkinnen unter zwei Kindern pro Frau. Wohingegen sich die Kosovaren stark vermehren. Seit 1982 hat sich ihre Zahl verdoppelt. Die Durchschnittsfamilie zählt sechs Mitglieder.

Aussage 6: "Die Berliner meinen immer, sie hätten besonders große Ausländeranteile; das ist falsch. Die Ausländeranteile von München Stuttgart, Köln oder Hamburg sind viel höher.”

Faktencheck: Da irrt Herr Sarrazin. Berlins Ausländeranteil beträgt 23 Prozent. Nur der von Hamburg ist mit 26 Prozent höher. In München liegt er bei 23, in Stuttgart bei 22 und in Köln bei 17 Prozent.

(RP)
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