Eberhard Sinner Dieser Ex-Minister ist in der CSU, sagt aber: Wir schaffen das mit den Flüchtlingen

Düsseldorf · Immer wieder sorgt die Partei durch streitbare Aussagen zum Thema Flüchtlinge für Diskussionen. Wir haben einen CSU-Politiker gefunden, der sagt: Wir schaffen das mit den Flüchtlingen. Der frühere bayerische Minister Eberhard Sinner bekennt sich sogar öffentlich zu Angela Merkel.

 Eberhard Sinner saß von 1986 bis 2013 im bayerischen Landtag. Er sagt: "Dem Populismus nachlaufen, bringt nichts."

Eberhard Sinner saß von 1986 bis 2013 im bayerischen Landtag. Er sagt: "Dem Populismus nachlaufen, bringt nichts."

Foto: Sinner

Ihr Parteifreund Markus Söder hat am Wochenende getwittert: "#ParisAttacks ändert alles. Wir dürfen keine illegale und unkontrollierte Zuwanderung zulassen." — was ist das Adjektiv, das Ihnen dafür einfällt?

Eberhard Sinner Das ist eine Vermischung der Themen Terrorismus und Flüchtlinge, die nicht korrekt ist.

Und in einem Wort?

Sinner Unpassend.

Die CDU-Politikerin Regina Görner hat in einer Facebook-Gruppe Unterschriften für einen offenen Brief gesammelt, der Angela Merkel in der Flüchtlingsfrage unterstützt. Tenor: Wir schaffen das. 1040 haben unterschrieben, exakt 5 kommen von der CSU. Sie sind einer davon. Das war aber kein Versehen von Ihnen, oder?

Sinner Nein, nein.

Denn von der CSU-Spitze ist ja eher zu vernehmen, dass wir in Deutschland überlastet sind. Warum haben Sie den Brief unterschrieben?

Sinner Schon allein deshalb, weil "Wir schaffen das nicht" keine Alternative ist. Frau Merkel hat eine Idee, wie man mit so einer Herausforderung umgeht. Und in dieser Idee kommt die Restauration von Grenzzäunen nicht vor. Das hat in der DDR nicht funktioniert, das funktioniert zwischen den USA und Mexiko nicht und es wird auch bei uns nicht funktionieren. Stattdessen kostet es vermutlich Milliarden. Die Orbanisierung Europas ist nicht die Lösung.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán war neulich aber zu Gast bei der CSU. War das nicht das falsche Signal?

Sinner Reden muss man mit Orbán. Aber niemand hat ihm vorgehalten. dass er das Dublin-Abkommen außer Kraft gesetzt hat. Das war das falsche Signal. Orbán hat weder die Flüchtlinge registriert, noch sie anständig behandelt. Er hat sie einfach laufen lassen. Er hat uns nicht nur Flüchtlinge vor unsere Grenzen geliefert, sondern auch den Kühllaster mit den 71 Leichen.

Nicht alle in der CSU sind wie Sie davon überzeugt, dass wir das mit den Flüchtlingen schaffen. Ihr Generalsekretär Andreas Scheuer schrieb am 10. Oktober via Facebook: "Wir haben die Belastungsgrenze überschritten, deswegen müssen wir in Deutschland viel stärker eine Obergrenze für Flüchtlinge diskutieren."

Sinner Es ist jedem klar, dass die betroffenen Landkreise an der Grenze der Machbarkeit sind. Aber das mit einer Obergrenze zu lösen, ist schwierig. Wo soll diese Obergrenze liegen? Darauf hat noch keiner eine Antwort gegeben. Natürlich kann sich ein Staat nicht so überfordern, dass er andere Dinge nicht mehr machen oder nicht mal das Asylrecht menschenwürdig gewährleisten kann — aber ich glaube, im Augenblick betrifft das keinen Bürger so direkt. Wenn wir 500 Millionen Einwohner in der Europäischen Union haben und 2 Millionen Flüchtlinge kommen — dann kann man sich einen Saal mit 500 Leuten vorstellen und es kommen 2 Flüchtlinge. Wo ist das Problem? Entscheidend ist die Verteilung. Das Asylrecht ist ein Individualrecht. Wenn Sie sagen, die Grenze liegt bei 500.000 — dann hätte der 500.001. genauso ein Asylrecht. Der würde vor jedem Gericht Recht bekommen. Der Ansatz von Merkel, eine europäische Lösung zu finden, ist intelligenter, als sich abzuschotten. Er ist nur schwieriger zu vermitteln.

Warum äußern sich Leute wie Andreas Scheuer so? Das gibt ja auch gewissen politischen Kräften am Rand Auftrieb.

Sinner Das Land Bayern tut alles, damit wir das mit den Flüchtlingen schaffen. De facto ist Bayern absolut flüchtlings-freundlich. Es gibt zum Beispiel in Unterföhring einen Helferkreis mit circa 125 Leuten, die sich für eine Gemeinschaftsunterkunft organisieren, aber noch keinen einzigen Flüchtling. Die sind schon pro-aktiv tätig. Die Rhetorik einiger CSU-Politiker konterkariert das leider. Wenn ich alles tue, damit wir das schaffen, kann ich meine eigene Politik nicht in Frage stellen, indem ich sage "Kollaps mit Ansage". Ich kann auch nicht ständig die Kanzlerin angreifen, die das umsetzen muss. Man kann Merkel nur stürzen oder stützen. Stützen ist die sinnvollere Wahl.

Das heißt, Seehofer müsste sich zu Merkel bekennen?

Sinner Das macht Seehofer ja auch. Aber am nächsten Tag geht dann wieder eine Diskussion los. Die CSU muss ihre Linie mal durchhalten. Wenn ich ein Thema mit dem medialen Echo einer Volkspartei stark hochziehe und sage, wir schaffen etwas nicht — dann stelle ich mich so in Frage, dass die Radikalen gewinnen. Die AfD hat in den Umfragen zugelegt.

Haben Sie das Gefühl, dass die CSU gerade auf Stimmen von potentiellen AfD-Wählern schielt?

Sinner Die AfD schielt zunächst auf Stimmen von CSU- oder Nicht-Wählern. Damit das keinen Erfolg hat, muss ich meine Politik, meine machbare Politik, erläutern.

Aber Aussagen wie "Wir schaffen das nicht mehr, wir brauchen eine Obergrenze" sind ja nicht mehr so furchtbar weit weg von Formulierungen der AfD.

Sinner Das Problem ist: Wenn so eine Obergrenze nicht kommt oder funktioniert, dann sagt der Politiker von der AfD: Sie haben Forderungen gestellt und sind nicht mal in der Lage, die umzusetzen. Populistische Parteien hingegen können ja immer viel mehr fordern. Weil sie nie nachweisen müssen, dass es funktioniert.

Dann sind die Aussagen Ihres Generalsekretärs zumindest ungeschickt.

Sinner Generalsekretäre sind immer eher so Haudrauf-Typen. Aber grundsätzlich müssen Volksparteien den Leuten Ängste nehmen. Populistische Parteien schüren sie. Für Volksparteien ist das eine Gratwanderung, weil sie die Probleme auch benennen müssen. Das darf aber nicht dazu führen, die AfD rechts zu überholen.

Warum äußern sich dann einige CSU-Politiker mit so einer starken Rhetorik?

Sinner Dem Populismus nachzulaufen, bringt auf jeden Fall nichts. Da kann ich nur Franz Josef Strauß zitieren, der gesagt hat: "Dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Mund reden." Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist heute manchmal mutiert zu einer freiheitlich-demoskopischen Grundordnung. Dann schaut ein Politiker nur noch auf die Meinungsumfragen. Wenn 70 Prozent der Bevölkerung gegen etwas sind, ist er das auch. Aber ein Politiker muss auch für eine Linie kämpfen, wenn die Umfragen dagegen sprechen. Merkels Politik ist populismusresistent.

Stehen Sie Frau Merkel gerade näher als der CSU-Spitze?

Sinner Das ist nicht die Frage. Die Frage ist: Wo liegt die Lösung des Problems? Und die liegt näher bei Merkel.

Die CSU hat sich via Facebook dafür gefeiert, dass sie das "Schärfste Asylrecht aller Zeiten in Deutschland" durchgesetzt hat — ist das nicht ein wenig unchristlich?

Sinner Ich hätte es jedenfalls nicht so formuliert. Das klingt sehr alarmistisch.

Ich zitiere einen weiteren Facebook-Eintrag der CSU vom Samstag: "Das bayerische Sicherheitskabinett wird morgen zur Analyse der Lage zusammentreten. Eines ist aber bereits klar: Es müssen wieder die Regeln des Rechts zur Geltung kommen, die leider seit vielen Wochen nicht mehr eingehalten werden." Werden da nicht Terrorismus und Flüchtlinge vermischt?

Sinner Diese Vermischung ist sicher nicht sinnvoll. Im Januar hat im Übrigen Seehofer die Parteien nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo dafür gelobt, dass sie diese Verbindung nicht hergestellt haben. Und er hat ja auch den Söder jetzt zurückgepfiffen für seine Aussagen.

Aber Seehofer selbst hat vorm Hintergrund der Anschläge in Paris gesagt, dass wir wieder wissen müssen, wer ins Land kommt. Dann ist er zumindest nicht konsequent.

Sinner Natürlich muss die Registrierung klappen, ganz unabhängig von den Anschlägen. Aber wenn einer ins Land kommen will, dann schafft er das. In den USA sind zwölf Millionen undocumented people (illegale Einwanderer, a.Red.) im Land — und das trotz der Absicherung an der mexikanischen Grenze. Wenn wir wieder regelmäßige Kontrollen einführen würden an der deutschen Grenze, wäre das ein riesiges Problem für die wirtschaftliche Entwicklung und das Zusammenleben in der EU. Unsere Grenzen zu Tschechien und Österreich sind so offen wie die Grenzen zu Hessen und Baden-Württemberg. Wir können nicht aus Angst vor Terror eine Lösung finden, die Errungenschaften wie die Freizügigkeit in der EU in Frage stellt. Die Geheimdienste in den USA haben nach 9/11 ein Maximum an Sicherheit hergestellt. Aber ist es richtig, das so weit zu treiben, dass die Freiheit der Bürger massiv eingeschränkt wird?

Und wenn ein zukünftiger Terrorist ins Land will, dann wird er auch bei einer Grenzkontrolle nicht auffallen, so nichts gegen ihn vorliegt.

Sinner Man sieht es ihnen ja nicht an. Und auch Frankreich hat ja den Anschlag nicht aufhalten können. Russland hat das Problem auch. Wenn irgendwo Geheimdienste etwas ohne Ermächtigung durch Richter machen können, dann sicher in Russland — und trotzdem gibt es dort Terroranschläge. Mitten in Moskau. Da gehen die Leute ins Theater und werden erschossen. Wenn Sie an der bayrisch-österreichischen Grenze Kontrollen einführen, reist der Terrorist eben über Belgien ein. Es hilft nur die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden. Aber auch dann werden Sie ein Restrisiko haben.

Mit einem Zitat von Herrn Scheuer muss ich Sie noch behelligen: "Wer als Flüchtling länger bei uns bleibt, muss die deutsche Leitkultur anerkennen. Wir wollen kein Multikulti!" Reicht es nicht, wenn sich die Flüchtlinge an die deutschen Gesetze halten?

Sinner Die Frage ist, was Sie unter Leitkultur verstehen. Ich würde darunter verstehen, dass sich Flüchtlinge neben den Gesetzen an unsere Art halten, miteinander umzugehen. Also wie behandle ich eine Frau zum Beispiel. Das steht ja nicht im Gesetz. Es kann nicht sein, dass jemand in Deutschland lebt und sagt: Ich lehne eine Behandlung durch eine Ärztin ab.

Es klingt aber immer so, als müssten sich Flüchtlinge an mehr halten als Deutsche.

Sinner Ich wäre schon froh, wenn sich die Leute von Pegida an die deutsche Leitkultur hielten. Die scheinen mir davon weiter entfernt zu sein als die Flüchtlinge.

Es ist ja auch nicht so, als kämen die Flüchtlinge aus dem Urwald.

Sinner Die kommen sogar aus älteren Zivilisationen als wir. Ich kenne die ganzen Ausgrabungen in der Türkei. Im Prinzip kommt unsere Kultur, angefangen mit der Agrikultur, genau aus diesem Raum. Wenn Sie ins Museum der anatolischen Zivilisationen in Ankara gehen, dann können Sie sehen, dass die schon lesen und schreiben konnten, als Buchstaben hier noch nicht bekannt waren.

Haben Sie schon mal gesehen, wer auf dem Facebook-Account der CSU so kommentiert? Das sind nicht unbedingt Leute, mit denen ich abends ein Bier trinken würde.

Sinner Das ist richtig. Ich bin ein absoluter Anhänger der Volkspartei. Die Union, wie sie nach dem Krieg gegründet wurde, war eine politische Innovation, die Deutschland unheimlich viel gebracht hat, weil die Mitte organisiert wurde. Jetzt gibt es das Risiko, dass mit der Fragmentierung der Gesellschaft auch die politische Landschaft fragmentiert. Deshalb entstehen Parteien wie die AfD. Da müsste man als Volkspartei dem Populismus der einfachen Lösungen widerstehen und dagegen argumentieren. Was Sie bei Facebook finden, sind zum großen Teil unsortierte Stimmen. Da muss man gegenhalten.

Ist die CSU gerade ein bisschen zu viel Populismus und ein bisschen zu wenig Volkspartei?

Sinner Eine Volkspartei muss jedenfalls auch mal eine Linie durchziehen, wenn die Umfragen dagegen sind. Nach der heftigen Diskussion um die Einführung der Bundeswehr hatte Adenauer das beste Ergebnis der CDU bei einer Bundestagswahl. Die CSU sollte sich also wieder stärker zurückbesinnen auf ihr Volkspartei-Dasein.

Wenn Sie sich schon an die Seite von Merkel stellen — könnten Sie dann am Ende unserer Gesprächs vielleicht auch etwas Kritisches über Franz Josef Strauß sagen? Das Klischee besagt ja, dass er in der CSU vorbehaltlos verehrt wird.

Sinner In seinen Stärken war Strauß seiner Zeit voraus, in seinen Schwächen war er ein Kind seiner Zeit. Strauß war impulsiv. Er hat Mandela in einen Topf mit Terroristen geworfen. Heute gibt es einen Flughafen, der nach Mandela benannt ist, und einen, der nach Strauß benannt ist. Und man kann von einem zum anderen fliegen.

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(seda)
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