SPD-Legende tot Egon Bahr war Willy Brandts Vordenker

Berlin · Egon Bahr setzte zeit seines politischen Lebens auf ein Klima der Entspannung. Er starb am Donnerstag im Alter von 93 Jahren.

Egon Bahr - Grandseigneur der SPD
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Foto: dpa, eis_gr cul axs tmk

Im Januar 2004 bin ich Egon Bahr zum ersten Mal persönlich begegnet. Es war ein zufälliges Treffen. Im Speckgürtel von Berlin stand ein Haus zum Verkauf, das ich besichtigte. Bahrs Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Adelheid Bahr wollte das Haus verkaufen. In dem leeren, großen Wohnzimmer stand er, Egon Bahr, und stellte gerade die Heizung neu ein. Auch in diesem Umfeld verströmte er die besondere Wirkung, die charismatische Menschen haben. Wir haben nicht über Weltpolitik gesprochen, sondern darüber, dass ein leer stehendes Haus im Winter mindestens bei acht Grad gehalten werden sollte. Später bin ich ihm noch gelegentlich im Willy-Brandt-Haus in Berlin für Interviews begegnet. Er war immer glänzend informiert, von punktgenauer Analyse und voller Neugier und Wachsamkeit.

Egon Bahr, der gestern im Alter von 93 Jahren gestorben ist, hat einen festen Platz in den Geschichtsbüchern. Er ist der Architekt der Ostpolitik. 1963, zwei Jahre nach dem Mauerbau, prägte Bahr als Grundlage seiner Strategie gegenüber dem Ostblock die Formulierung "Wandel durch Annäherung". Er war davon überzeugt, dass man Fortschritte nur in einem Klima der Entspannung erreichen kann.

Er war der Mann an Willy Brandts Seite, sein Berater, sein Vordenker, sein Freund. Der damalige Regierende Bürgermeister Berlins holte den Journalisten Bahr 1960 vom Sender Rias als Sprecher in seine Senatskanzlei. Als Brandt 1969 Kanzler wurde, berief er Bahr erst zum Staatssekretär im Kanzleramt und 1972 zum Minister für besondere Aufgaben.

Über die Jahre wurden Brandt und Bahr Freunde, wie es sie in der Politik selten gibt. Unvergessen sind die Bilder von Bahr 1974, als Brandt im Zuge der Guillaume-Affäre zurücktreten musste. Der raubeinige SPD-Fraktionschef Herbert Wehner sagte damals zu Brandt: "Willy, du weißt, wir alle lieben dich." Bahr kamen die Tränen, weil er die "Heuchelei" nicht ertrug, wie er später einmal berichtete.

Nur selten erleben Politiker, dass ihre Visionen wahr werden. Bahr wurde dies zuteil. Seine Entspannungspolitik, für die er teils heftig auch als "Vaterlandsverräter" angefeindet wurde, mündete 1970 im Abschluss der Verträge von Moskau und Warschau, in denen gegenseitiger Gewaltverzicht festgelegt wurde.

1972 folgte der Grundlagenvertrag mit der DDR. Seine Ostpolitik gilt auch als eine Vorlage für die Perestroika Gorbatschows Ende der 80er Jahre, die zum Mauerfall und zur deutschen Wiedervereinigung führte.

Auf die Frage, was seine stärksten diplomatischen Waffen in den Ost-West-Verhandlungen gewesen seien, sagte Bahr im Alter von 90 Jahren einmal: "Erstens, die absolute Vertrautheit mit der Materie. Zweitens: Man gewinnt nicht gegen, sondern nur mit jemandem. Erst dann bildet sich zwischen Partnern Vertrauen. Und drittens: Man darf niemals mit gespaltener Zunge reden." Er habe seinen Verhandlungspartnern auf amerikanischer und auf russischer Seite immer "in aller Offenheit erzählt, was wir wollten".

Bahr, der 1922 im thüringischen Treffurt geboren wurde, war politisch von seinem Vater geprägt. Der Lehrer war mit einer Halbjüdin verheiratet. Weil er sie trotz Druck der Nazis nicht verlassen wollte, verlor er seinen Job. Die Familie zog damals nach Berlin. Bahr machte 1940 Abitur und wurde Flak-Helfer. Später machte er keinen Hehl daraus, dass er vom Krieg zunächst nicht entsetzt war, selbst den Anblick von Leichen ertrug er. In seiner Autobiografie schrieb er über diese Zeit, er könne sich im Rückblick keine "unangefochtene demokratische Überzeugung" bescheinigen. 1944 wurde er als "wehrunwürdig" entlassen, als die Nazis herausfanden, dass er eine jüdische Großmutter hat.

Als Bahr 1990 nach 18 Jahren nicht mehr in den Bundestag zurückkehrte, setzte er sich politisch nicht zur Ruhe. Er behielt zeitlebens ein Büro in der SPD-Parteizentrale. Wenn es entgegen den Vorschriften im Willy-Brandt-Haus mal wieder nach Rauch roch, grinsten die Mitarbeiter und meinten: "Egon Bahr ist da."

Bahr blieb der scharfsinnige Analytiker, der in kurzen Sätzen trefflich die Weltenlage erklären konnte. Er pflegte auch über seinen 90. Geburtstag hinaus seine Kontakte in alle Welt. Als TV-Gast und Interviewpartner war er immer gefragt.

Er blieb ein Mahner, der seine Kritik höflich, aber in der Sache unmissverständlich vortrug. Die harte Haltung Merkels gegenüber Griechenland veranlasste ihn zu einem Vergleich mit der Weimarer Republik: "Wenn zu viele Menschen in Not geraten und die Hoffnung verlieren, gerät die Demokratie in Gefahr."

Mit der Ukraine-Politik der großen Koalition war er ganz und gar nicht einverstanden - das Agieren von SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier eingeschlossen. Bahr blieb in dieser Frage bei seinem bewährten Rezept der Entspannung. In einem Interview mit unserer Zeitung forderte er Ende vergangenen Jahres, Putin wieder in die Gemeinschaft der G 8 aufzunehmen. Den Schlüssel zur Lösung der Krise sah er in einer Verständigung zwischen Russland und Amerika. Den russischen Präsidenten Putin kannte er persönlich nicht.

(qua)
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