Öffentliche Schlichtung bei "Stuttgart 21" "Ein spannendes Demokratie-Experiment"

Stuttgart (RP). Heiner Geißler, der 80 Jahre alte, im Kopf erstaunlich junge Schlichter im Streit um das gewaltige Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, legte die Messlatte bei der ersten Schlichtungsrunde am Freitag im Stuttgarter Rathaus hoch: Was hier und heute zum ersten Mal vor aller Augen und Ohren ablaufe, sei einmalig, sei der Prototyp eines Experiments zum Ausbau von direkter Demokratie, ja ein "spannendes Demokratie-Experiment".

Stuttgart 21 - Befürworter und Gegner
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Stuttgart (RP). Heiner Geißler, der 80 Jahre alte, im Kopf erstaunlich junge Schlichter im Streit um das gewaltige Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, legte die Messlatte bei der ersten Schlichtungsrunde am Freitag im Stuttgarter Rathaus hoch: Was hier und heute zum ersten Mal vor aller Augen und Ohren ablaufe, sei einmalig, sei der Prototyp eines Experiments zum Ausbau von direkter Demokratie, ja ein "spannendes Demokratie-Experiment".

Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU), der bis zur Mittagspause auf der Seite der Projekt-Befürworter die "Sach- und Fachschlichtung" verfolgt hatte, wollte bei großen Worten nicht zurückstehen: Er bezeichnete den Beginn der Gespräche über Stuttgart 21 als einen "guten Tag für die Demokratie".

Mappus' möglicher Nachfolger im Ministerpräsidenten-Amt, Winfried Kretschmann (Grüne), wählte ebenfalls den hohen, feierlichen Ton: Der Wert der Gespräche liege in der "Erprobung eines neuen Modells für eine moderne Bürgergesellschaft".

Man hätte denken können, im großen Rathaus-Sitzungssaal zu Stuttgart werde soeben die Demokratie neu erfunden, wäre es bei der sich anschließenden stundenlangen Aussprache zwischen Anhängern und Gegnern des "Jahrhundertprojektes" (Befürworter) nicht knallhart, wie im richtigen demokratischen Leben zugegangen.

Baden-Württembergs Umwelt- und Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU), Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne), Bahnvorstand Volker Kefer spielten energisch auf Angriff. Geißler bestand wiederholt auf seiner Rolle als Anwalt interessierter Zuhörer und Zuschauer vor der Großleinwand im Nachbar-Raum und im Fernsehen beziehungsweise Internet.

Geißler wollte, dazu keinen Geringeren als den Königsberger Philosophen Immanuel Kant zitierend, die Menschen in die Lage versetzen, sich nach sachlicher Aufklärung ihres eigenen Verstandes zu bedienen, sich ein Urteil zu bilden.

Der Schlichter musste bald feststellen, dass man nicht einerseits "Sach- und Fachaufklärung" anmahnen kann, um andererseits, wenn Fachleute faktenreich, komplex, ermüdend über Güterverkehrs-Feinheiten oder "integrale Taktfahrpläne" referierten, unduldsam "So geht das nicht" zu rufen. Gönner fuhr dem Schlichter bissig in die Parade: "Gewisse Sachlichkeit und Fachlichkeit ist bei einer Sach- und Fachschlichtung nicht vermeidbar."

OB Palmer lobte den Schlichtungstag als "Ventil für den aufgestauten Bürger-Unmut". Nach Schluss der ersten Runde resümierte der Grünen-Spitzenpolitiker aus Tübingen mit Blick auf die Landtagswahl in fünf Monaten: "Falls meine Partei Regierungsverantwortung nach dem 27. März 2011 bekommt, wird Stuttgart 21 nicht verwirklicht."

Tanja Gönner sagte nach sechseinhalb Stunden urdemokratischer Rede und Gegenrede, im Nachhinein lasse sich leicht die Frage stellen, ob man so etwas Lehrreiches nicht schon früher hätte machen sollen. Zur Wahrheit gehöre jedoch auch dies: Als die nun beschworene bessere Kommunikation mit der Zivilgesellschaft vom Land durch Mehrausgaben für Information ausgeglichen werden sollte, sei das von der Contra-Fraktion stets heftig kritisiert worden.

Bundesverfassungsrichter a.D. Paul Kirchhof verlangte als Lehre aus dem Bahnhofs-Streit in den "Stuttgarter Nachrichten" nicht mehr direkte Demokratie, vielmehr eine radikale Verkürzung der Planungsverfahren.

(RP)
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