Arzneimittelmissbrauch Eine Million Ältere sind tablettensüchtig

Berlin · Immer mehr alte Menschen sind süchtig nach Medikamenten. Aber auch die Abhängigkeit von Alkohol, Nikotin und selbst illegalen Drogen ist unter Senioren weit verbreitet. Die Zahl der Süchtigen nimmt zu. Nun sollen Alten- und Suchthilfe besser kooperieren.

Arzneimittelmissbrauch: Eine Million Ältere sind tablettensüchtig
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Die Zahl der abhängigen älteren Menschen ist in Deutschland größer als bisher vermutet. In der öffentlichen Wahrnehmung spielen die 220.000 Rauschgiftsüchtigen und die 1,3 Millionen Alkoholabhängigen regelmäßig eine große Rolle. Kaum einer spricht jedoch von den bis zu 1,9 Millionen Medikamentensüchtigen, die nach einer neuen Untersuchung des Bremer Gesundheitsforschers Gerd Glaeske zu zwei Dritteln über 65 Jahre alt sind. Weit über eine Million Ältere kommen von den Tabletten nicht mehr los, aber auch Alkohol, Nikotin und vereinzelt illegale Drogen machen ihnen zu schaffen.

"Die Zahl geht in die Millionen", weiß auch die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), wenn sie auf die Zahl der Abhängigen im Alter angesprochen wird. Der Trend hält an. "Wir sehen eine Zunahme von Menschen mit Suchtmittelabhängigkeit im fortgeschrittenen Alter", sagt Gesundheits-Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz (CDU) unserer Redaktion. Nun sollen Altenhilfe und Suchthilfe besser kooperieren.

Auch Ältere trinken sich in den Rausch

18.5 Prozent der Frauen und 27 Prozent der Männer ab 65 weisen einen riskanten Alkoholkonsum auf. Auch das stets Jugendlichen zugeschriebene "Rauschtrinken" findet sich bei den Älteren: 22,5 Prozent der 65- bis 79-Jährigen gaben in einer Berliner Studie an, sich mindestens einmal im Monat mit Alkohol zu berauschen.

Die illegalen Drogen sind weiterhin vor allem ein Problem jüngerer Jahrgänge. "Uns sind keine 80-jährigen Junkies bekannt", sagt DHS-Experte Peter Raiser. Doch auch die Süchtigen der 70er und 80er Jahre brauchen inzwischen neue Hilfsangebote. Nach zwei Jahrzehnten Drogenkonsum hat sich bei ihnen der körperliche Alterungsprozess beschleunigt. Lag in den ambulanten Hilfseinrichtungen der Anteil der Über-40-jährigen Opiatabhängigen Anfang des letzten Jahrzehntes noch bei elf Prozent, stellen sie jetzt schon fast ein Drittel aller Patienten.

Arzeimittelmissbrauch ist das größte Problem

Zwar geht der Anteil der Konsumenten illegaler Drogen (außer Cannabis) von Altersgruppe zu Altersgruppe zurück und sinkt bei den 50- bis 59-Jährigen auf 0,1 Prozent. Der Wert verdreifacht sich aber wieder bei den 60- bis 64-Jährigen.

Mit Abstand das größte Problem ist der Arzneimittelmissbrauch. Glaeske weist darauf hin, dass bei den Menschen über 65 Jahren 35 Prozent der Männer und 40 Prozent der Frauen neun Arzneimittelwirkstoffe zur Dauertherapie erhalten - nur vier bis fünf seien aber verträglich. Das liege unter anderem an mangelnder Abstimmung unter den Ärzten.

Das Mittel der Wahl sind Benzodiazepine, also Beruhigungs- und Schlafmittel. Sie dienen aber nicht nur der Behandlung von Schlafstörungen, stellt Glaeske fest, sondern werden auch eingesetzt bei Entwertungsgefühlen im Alter, bei Einsamkeit, Unzufriedenheit, Ängsten und depressiven Verstimmungen. Viel zu oft und viel zu schnell würden Ärzte Benzodiazepine oder Antidepressiva verschreiben. Glaeske appelliert an die Mediziner umzudenken, wenn ein weiteres Anwachsen der suchtkranken älteren Menschen verhindert werden soll: "Pharmawatte ist keine Bewältigungsstrategie."

Das Gesundheitsministerium hat Hilfsangebote für Ältere untersuchen lassen. Die erste Schlussfolgerung von Widmann-Mauz: "Wir helfen Betroffenen, wenn wir das Thema Sucht im Alter enttabuisieren und ein breites Netz an Unterstützungsangeboten schaffen."

(may-)
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