Kriminologe über Polizeiarbeit "Erfolg besteht nicht darin, dass man mit Panzern vorfährt"

Hamburg/Düsseldorf · Nach dem Anschlag von Berlin stehen Polizei und Staatsanwaltschaft in der Kritik: Ist bei den Ermittlungen wirklich alles optimal gelaufen? Wir haben mit dem Kriminologen Rafael Behr gesprochen.

 Kerzen und Blumen am Tatort in Berlin.

Kerzen und Blumen am Tatort in Berlin.

Foto: rtr, rke/

In Talkshows und in Nachrichtensendungen sagen in diesen Tagen jede Menge Experten, wie die Bundesrepublik mit dem Anschlag umgehen sollte. Manch einer spricht sogar vom Kriegszustand, in dem wir uns jetzt befänden. Der Hamburger Kriminologe Rafael Behr hält das schlicht für hysterisch.

Herr Behr, nach dem Amoklauf in München bekam die Polizei viel Lob aus der Bevölkerung. Alles wirkte so koordiniert, die Öffentlichkeitsarbeit sehr offensiv. Lief es jetzt in Berlin schlechter?

Behr Die Bezeichnung "offensiv" würde ich teilen. Koordinierter allerdings gar nicht. Es ist lediglich so, dass man in Berlin — wie ich vermute — die Lehren aus München gezogen hat und zum Beispiel in den sozialen Netzwerken wesentlich früher und präziser Informationen herausgegeben hat. In Berlin war schnell klar, dass es keine weiteren Tatorte gibt. Das war ja in München der große Irritationsfaktor, dass alle möglichen Leute gesagt haben: Auch hier wird geschossen. Daraus hat man viel gelernt und sehr früh gesagt: Die Lage ist unter Kontrolle.

In Berlin waren viel weniger Beamte wahrnehmbar als im Sommer in München. Stimmen die Verhältnismäßigkeiten?

Behr Mir schien im Vergleich zu München das Auftreten der Polizei vor allem weniger martialisch gewesen zu sein. In München wurde alles, was Spezialeinheit hieß, eingeflogen — bis hin zum Einsatzkommando Cobra aus Österreich. Die haben alles aufgeboten, was der Staat hat. Darauf hat man in Berlin verzichtet. Wir haben dort Bereitschaftspolizisten gesehen mit Maschinenpistolen, aber keine Hundertschaften von Spezialeinheiten. Das kam mir wesentlich nüchterner und unaufgeregter vor. Es war verhältnismäßiger. Das sind aber auch kulturelle Unterschiede. Die Berliner Polizei tritt immer weniger formal auf als die Polizei anderer Städte und Bundesländer. Es gibt mittlerweile aber auch eine gewisse Routine, eine Operation nach Plan. Dieser Plan scheint mir auch aufgegangen sein.

Aber die Ermittler haben sich sehr schnell auf einen Täter festgelegt — und mussten dann zurückrudern, als klar war: Wir haben den Falschen.

Behr Ja, man hat sich auf einen Mann gestürzt und dachte, man hätte den Täter. Dass die Berliner Polizei dann aber auch das Rückgrat hatte zu sagen: Wir haben alles geprüft und wir haben uns getäuscht, finde ich sogar professionell. Wenn wir das mit anderen Schreckenstaten vergleichen auf der Welt: In Usbekistan, Russland oder in der Türkei — die liefern nach einer Tat immer sofort einen Täter. Und die bleiben in der Regel dann auch Täter. Wenn jetzt irgendwo steht: Ein Verdächtiger wurde wieder freigelassen, dann ist das schlichtweg falsch. Denn der Mann wurde auf alles Mögliche überprüft und der Verdacht hat sich nicht bestätigt. Insofern ist er nicht mehr verdächtig. Er ist nur in den Fokus der Ermittler geraten, weil ein Passant ihn verfolgt hat.

Kriminologe über Polizeiarbeit: "Erfolg besteht nicht darin, dass man mit Panzern vorfährt"
Foto: Polizei Hamburg

Viele fordern nun wieder Maßnahmen wie etwa mehr Videoüberwachung. Macht das Sinn?

Kriminologe über Polizeiarbeit: "Erfolg besteht nicht darin, dass man mit Panzern vorfährt"
Foto: dpa, kno

Behr Im Moment schießen die Experten wie Pilze aus dem Boden und behaupten irgendwas. Das ist wie beim Fußball. Aber das kann man immer nur vor dem Hintergrund der eigenen Wahrnehmung machen und mit dem Wissen, das man hinterher hat. Jetzt zu verlangen, man hätte Videoüberwachung haben müssen auf dem Breitscheidplatz ist schlicht gesagt purer Blödsinn. Morgen kann es auf dem Bahnhof Zehlendorf passieren. Da müssen sich auch die Medien kontrollieren und sich fragen: Wovon sprechen wir? Ich wäre sehr dafür, dass man sich in derart unübersichtlichen Lagen mit Verdachtsmomenten oder Prognosen erst einmal zurückhält und die Polizei ihre Arbeit machen lässt.

Wie sollte man Ihrer Meinung nach denn auf derartige Anschläge reagieren?

Behr Das Perfide an diesen Verbrechen ist, dass die Schutzstrategien neu gedacht werden müssen. Unsere Vorstellungen davon, wie wir uns schützen könnten, werden schlichtweg unterlaufen. Sie gelten nicht mehr. Man muss sich viel mehr mit der Frage beschäftigen, wie unsere Gesellschaft mit dieser Bedrohungssituation umgehen soll. Da können wir uns Vorbilder zum Beispiel in Israel suchen, das Land lebt schon lange mit Terrorismus. Aber jetzt zu fordern: Wir brauchen mehr Schutz vor allem, mehr Videoüberwachung, mehr Daten, mehr Polizei — das ist nicht die Lösung. Es geht um ein besonnenes Vorgehen, dazu gehört auch, einfach mal 24 Stunden die Klappe zu halten, nachzudenken, zu trauern, zusammenzustehen und zu überlegen, was der nächste Schritt ist. Das ist viel sachgemäßer als jetzt über Flüchtlingsfragen nachzudenken oder sonst was. Das halte ich für obszön.

Waren die Ermittler unter Druck? Haben sie deshalb so früh Ergebnisse präsentiert?

Behr Die Polizei ist natürlich im Anfangsstadium auf alles angewiesen, was die Bevölkerung ihr mitteilt. Und ein Zeuge hat einen Verdächtigen geliefert. Der Rest war dann erst einmal kriminalpolizeiliche Routinearbeit, nämlich überprüfen, verifizieren und gucken, ob das stimmt. Was die Politiker dann daraus gemacht haben, ist verantwortungslos. Vor allem die weit entfernten. Berlins Polizeipräsident Klaus Kandt hat relativ früh mit betretener Miene gesagt: Wir haben den falschen Mann. Das ist einfach so, so etwas passiert. Und ich nehme die Polizei bis zu dem Zeitpunkt in Schutz, wo sie einfach keine anderen Fahndungshinweise hatte. Der polizeiliche Erfolg besteht nicht darin, dass man mit Kriegswaffen auftritt oder mit Panzern vorfährt, sondern dass Leute festgenommen werden aufgrund kriminalpolizeilicher Ermittlungen — seit Mittwoch gibt es ja nun auch einen neuen Verdächtigen.

Was denken Sie, wenn Sie hören, dass der saarländische Innenminister Klaus Bouillon behauptet: "Wir sind in einem Kriegszustand"?

Behr Das ist schlicht eine hysterische Reaktion. Der soll vielleicht nochmal Schulaufgaben machen. Solche Aussagen werten übrigens auch die andere Partei auf. Sie macht Terroristen zu einer Kriegspartei. Wer so etwas sagt, hat mit Sicherheit keinen Krieg und auch nicht die RAF-Zeit erlebt. Und auch da waren wir nicht im Krieg. Aber die Gesellschaft wurde damals bis an den Rand ihrer Belastbarkeit provoziert. Das waren schlimme Situationen. Wir können von Glück sagen, dass wir einige Jahrzehnte ohne diese Bedrohung ausgekommen sind, aber es gibt keine Garantie dafür, dass man immer in diesem Zustand bleibt. Insofern heißt es jetzt: Zusammenrücken. Ähnlich wie die norwegische Gesellschaft nach dem Breivik-Attentat zusammengerückt ist und gesagt hat, wir lassen uns unsere Freiheit nicht zerstören. Psychologisch ist natürlich erklärbar, warum Leute in dieser schwierigen Situation ihre Trauer und ihre Angst kompensieren, indem sie martialische Forderungen stellen. Wenn das an den Stammtischen getan wird, kann man das nicht beeinflussen, aber wenn das Innenminister oder Gewerkschaftsvorsitzende tun, dann halte ich das für eine unangemessene Reaktion.

Aber wie soll man Normalität leben, wenn der Täter noch nicht gefasst wurde?

Behr Man kann natürlich nicht weitermachen wie jeden Tag, es ist eine Bedrohung unter uns. Aber es laufen in Berlin wahrscheinlich 50 bis 70 Psychopathen rum, die sich vornehmen, alles Mögliche in die Luft zu jagen. Die meisten tun es nicht. Natürlich ist nicht Friede, Freude, Eierkuchen und insofern ist die Demonstration polizeilicher Stärke nachvollziehbar. Dass man jetzt nicht alle wieder zurück in die Streifenwagen setzt, sondern zeigt, was Polizei kann, ist auch eine Botschaft an die Öffentlichkeit. Funktional tauglich ist es wahrscheinlich nicht — wir kennen keine Ereignisse, wo nach dem Attentat der Täter zum Tatort zurückgekommen ist und sich hat festnehmen lassen. Aber darauf kommt es nicht an. Es geht darum, zu zeigen, die Polizei ist nicht ohnmächtig, sie ist nicht in Agonie verfallen.

Kann mehr Polizeipräsenz das Sicherheitsgefühl erhöhen? Viele empfinden bis unter die Zähne bewaffnete Polizisten eher als Bedrohung.

Behr Mannstärke allein ist kein Sicherheitsfaktor. Wenn wir viel Polizei haben, die sehr martialisch auftritt, aber nicht mit der Bevölkerung in Kontakt ist, dann ist das keine Beruhigung für die Öffentlichkeit. Wenn wir uniformierte Beamte haben, die auch ansprechbar sind, dann signalisiert man den Menschen: Wir sind da, wir passen auf Euch auf. Das subjektive Sicherheitsempfinden steigt mit der Ansprechbarkeit der Polizei. Eher mehr Schutzmänner also als Polizei-Soldaten. Die Tat ist passiert, der Frieden ist gestört. So zu tun als wäre nichts gewesen ist genauso falsch wie jetzt die Weihnachtsmärkte abzubrechen.

Rafael Behr ist Professor für Polizeiwissenschaften mit den Schwerpunkten Kriminologie und Soziologie am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg (früher: Hochschule der Polizei). Er leitet die Forschungsstelle Kultur und Sicherheit.

(hsr)
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