Pressestimmen aus dem Ausland Einigung bei Sondierung - "Sektkorken nicht vorschnell knallen lassen"
Die Einigung zwischen Union und SPD bei den Sondierungsgesprächen ist von vielen Medien im Ausland kommentiert worden. Ein Blick in die Meinungsspalten.
Neue Zürcher Zeitung (Schweiz): "Deutschland scheint gefangen in der ungeliebten großen Koalition, die nur noch ganz knapp groß genug für eine Mehrheit im Bundestag ist. Angesichts dieser Umstände täten die zur Zusammenarbeit verdammten Volksparteien gut daran, sich wenigstens personell rasch zu erneuern und mit neuen Köpfen und Ideen auch neue Sympathie- und Vertrauensträger aufzubauen. Wird die Erneuerung jetzt nicht rasch eingeleitet, so kommt sie spätestens bei der nächsten Wahl 2021, aber dann zwangsweise und mit Gewalt und Schmerzen."
The Times (Großbritannien): "Angela Merkel steuerte am Freitag zwar auf einen Entwurf für eine neue Regierungskoalition zu, aber sie muss nun erst einmal nervös abwarten, wie ihr politisches Schicksal von Mitgliedern Deutschlands großer Mitte-Links-Partei entschieden wird ... Offene Ablehnung kommt aus der SPD-Jugendorganisation und dem linken Flügel, aber auch von Mitgliedern des nordrhein-westfälischen Landesverbandes."
El Mundo (Spanien): "Spanien ist das einzige große Land Westeuropas, das nie eine Koalitionsregierung gehabt hat. Und das, obwohl die zunehmende Zersplitterung im Parlament bei uns dazu geführt hat, dass wir fast ein Jahr lang keine Regierung hatten und man deshalb eine Neuwahl abhalten musste. Die Fähigkeit von Mächten wie Deutschland, Dialog zu führen und Mehrparteienregierungen zu bilden, weckt daher Neid. Die christdemokratische Kanzlerin Angela Merkel und Sozialistenchef Martin Schulz haben gestern eine Einigung auf Verhandlungen über die Fortsetzung der großen Koalition erreicht, die den Deutschen die bis vor kurzem wahrscheinlich scheinenden Neuwahlen ersparen würde. Die Parteibasen werden das letzte Wort haben. Aber der Pragmatismus, der die Politik des europäischen Giganten seit jeher kennzeichnet, lässt vorhersagen, dass es weißen Rauch geben wird."
La Repubblica (Italien): "Werden trotz einer gescheiterten Reichensteuer, der geplatzten Bürgerversicherung und einer viel restriktiveren Flüchtlingspolitik die erzielten Schritte ausreichen, um die Basis davon zu überzeugen, dass eine große Koalition hilft, linke Wählerstimmen zurückzugewinnen? Wenn ein Argument die Basis von einer Merkel-Regierung überzeugen kann, ist es das: Es wird die letzte sein."
De Standaard (Belgien): "EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wusste am Freitag nicht wohin mit seiner Freude. Und auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist von der Chance begeistert, das ins Stocken geratene europäische Projekt wieder auf Spur zu bringen. Der deutsch-französische Motor stand in den vergangenen Jahren häufig still. Nach Schuldenkrise, Brexit und der tiefen Zerstrittenheit beim Thema Zuwanderung braucht die Europäische Union dringend eine neue Dynamik. Deren Konturen sind noch recht vage. Die tatsächlichen Regierungsverhandlungen müssen erst noch beginnen. Zumal die Basis der SPD der fortgesetzten Rolle der Partei als kleiner, nun sogar noch kleinerer Partner der Christdemokraten zustimmen muss. Aber zumindest zeichnen sich Rahmenbedingungen ab, unter denen es wieder möglich wird, an der Vertiefung der europäischen Integration zu arbeiten."
Guardian (Großbritannien): "Nach dem Aufschwung der rechtsextremen AfD bei den Bundestagswahlen im September war es wichtig, dass Deutschlands etablierte Parteien einen Weg finden, ihr Modell einer sozialen Marktwirtschaft für kommende Zeiten zu erneuern. Doch es wäre klug, die Sektkorken nicht vorschnell knallen zu lassen. Zwar hat Angela Merkels konservativer Block aus CDU und CSU einen Koalitionsdeal mit der Mitte-Links-SPD von Martin Schulz erreicht. Aber es ist längst noch nicht sicher, dass dieser Deal Bestand haben wird. (...) Vieles wird davon abhängen, ob das vereinbarte Sondierungsdokument nach Einschätzung der SPD-Basis ihre Forderungen ausreichend genug berücksichtigt, um das im vergangenen Jahr weit verbreitete Gefühl überwinden zu können, dass die Partei besser in der Opposition aufgehoben wäre, als zum dritten Mal Juniorpartner einer von Merkel geführten Koalition zu sein."
Les Dernières Nouvelles d'Alsace (Frankreich): "Die einzigen wirklich wichtigen Punkte (im Sondierungspapier) sind die Plätze, die Europa und der Eurozone im Koalitionsprojekt einnehmen, auch wenn sie im Vergleich zu den Visionen von Präsident (Emmanuel) Macron vage bleiben. Eines ist gewiss: Die nächste deutsche Regierung wird nicht vor Ostern im Amt sein... oder am Sankt-Nimmerleins-Tag. Sicherlich mit (Angela) Merkel als Kanzlerin. Aber mit einer immer weniger souveränen."
Der Standard (Österreich): "Anders als bei den Jamaika-Verhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen waren die Sondierer diesmal äußerst schnell, hatten offenbar intern weniger Querelen als die erfolglosen Sondierer von Union, FDP und Grünen und legten dann auch noch ein Ergebnis vor. Getrieben hat sie nicht die Lust auf weitere gemeinsame schwarz-rote Jahre am Kabinettstisch, sondern die Angst vor Neuwahlen."
Die Presse (Österreich): "Von einer solchen Zwangsehe Aufbruchstimmung zu erwarten wäre fast unfair. Alle drei Parteichefs tragen ein Ablaufdatum auf ihrer Stirn. CSU-Chef Horst Seehofer musste bereits die halbe Macht abgeben: Markus Söder verdrängt ihn demnächst als Bayerns Ministerpräsident. Martin Schulz bleibt nur deshalb, weil sich auf die Schnelle kein Besserer gefunden hat. Und auch CDU-Kanzlerin Merkel musste sich schon während der Sondierungsgespräche öffentliche Erörterungen über die einsetzende Abenddämmerung ihrer Ära anhören. Umfragen zufolge glaubt mittlerweile die Mehrheit der Deutschen, dass sie die Macht zur Halbzeit der Legislaturperiode abgeben wird. Der Winter der deutschen Matriarchin hat begonnen. Eine Vision hat sie auch auf ihrer Abschiedstournee nicht anzubieten."
De Volkskrant (Niederlande): "Nun bleibt abzuwarten, ob SPD-Chef Martin Schulz seine kritischen Genossen für die sozial-ökonomischen Pluspunkte erwärmen kann, die er erreichen konnte. Die Christdemokraten meckern (noch) nicht hörbar über die Vereinbarungen, was sicher damit zusammenhängt, dass die Kanzlerschaft von Angela Merkel fortgesetzt wird. Zweifellos sind jedoch viele von ihnen nicht glücklich mit einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration, zu der sich die künftige große Koalition bekennt. Die AfD, die drittgrößte Partei im Bundestag, dürfte daraus Argumente für eine kräftige Oppositionspolitik gewinnen. Selbst wenn der SPD-Parteitag am 21. Januar einer Regierung Merkel/Schulz den Segen erteilt, wirkt diese Koalition zerbrechlicher als alle bisherigen in der Ära Merkel seit 2005. Das Hauptverdienst dieser 'Koalition, die niemand will' dürfte denn auch darin bestehen, dass sie 'Neuwahlen, die niemand will' verhindert."
Corriere della Sera (Italien): "Es gibt noch immer Hürden, die genommen werden müssen. (...) Aber die Einigung von gestern, die nach dem Scheitern der einzigen anderen Option auf eine Regierung - einer 'Jamaika'-Koalition aus CDU-CSU, Liberalen und Grünen - kam, ist ein Zeichen für die Vertrauenswürdigkeit einer politischen Klasse, die ganz genau weiß, wo ihre Verantwortlichkeiten gegenüber den Wählern liegen. 'Die Leute wollen, dass das Land funktioniert', fasst es die Kanzlerin zusammen. Man kann sagen, dass die Einigung von gestern eine gute Nachricht für die europäische Idee ist, die auch Italien unterstützt. (...) Sie beendet die zu lange Abwesenheit Deutschlands vom gemeinsamen Gespräch, die Brüssel in diesen Monaten beunruhigt und teils wichtige Entscheidungen blockiert hat."
La Vanguardia (Spanien): "Obwohl es einige Monate dauern wird, bis die große Koalition in Berlin Wirklichkeit wird - man redet von einer Regierungsbildung zu Ostern-, ist es eine Tatsache, dass die Einigung bei den Sondierungsgesprächen eine große Nachricht für Deutschland und für ganz Europa ist. Die Notwendigkeit, dass die deutsche Lokomotive das europäische Gemeinschaftsprojekt weiterhin vorwärts zieht, ist offensichtlich. Und noch mehr nach dem Brexit. Dass Berlin über eine stabile Regierung und über einen konkreten und machbaren Fahrplan verfügt ist gut für alle, für die Deutschen und auch für die Europäer."
Tages-Anzeiger (Schweiz): "In vielem gibt die mögliche Koalition ziemlich kleine Antworten auf ziemlich große Probleme. Vieles sieht eher nach 'Weiter so, mit Retuschen' als nach einem Aufbruch aus. (...) Eine Wiederauflage dürfte in jedem Fall ein Notbündnis, vielleicht auch eine Art Übergangsregierung bleiben. Dies gilt umso mehr, als es von jenen Veteranen angeführt würde, die aus der Ära Merkel halt noch übrig blieben - Kanzlerin inklusive. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es Deutschland unter einer solchen Regierung keinesfalls schlecht ergehen muss, im Gegenteil. Aber eine Politik, die den großen Herausforderungen der Zukunft mit ihrem Anspruch tatsächlich gerecht wird, wird daraus kaum entstehen."
La Voix du Nord (Frankreich): "Ohne sich übermäßig Angst machen zu wollen: Es gab die Gefahr, dass sich in Deutschland gar keine Koalition bildet. Seit gestern ist man optimistischer. (...) (Frankreichs Präsident) Emmanuel Macron will nicht nur vermeiden, dass Europa sich auflöst, ihm liegt daran, dass es stärker wird, vor allem die Eurozone. Die
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