Serie - Die Geschichte der Deutschen (Teil 11) Erster Weltkrieg - die Urkatastrophe

Düsseldorf · Der Erste Weltkrieg ist der erste Epochenbruch des 20. Jahrhunderts. Mit ihm gehen drei Kaiserreiche unter. Anfangs als Ausweg aus festgefahrenen politischen Konflikten bejubelt, nimmt der erste "industrielle Krieg" rasch fürchterliche Ausmaße an. Die gigantische Eskalation hat fatale Folgen, auch nachdem die Waffen schweigen.

Der Erste Weltkrieg: Tod, Hunger und Zerstörung
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Der Erste Weltkrieg: Tod, Hunger und Zerstörung

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Mit dem neuen Tag kommt der Tod. "Eine milchig weiße, träge Wand wälzte sich langsam unserem Dorfe zu... Als die ersten Sonnenstrahlen ganz weiß glänzten, steigt die scheußliche Gasflut immer höher... Was heute der 1. Juli alles bringen mag? Vielleicht überleben wir ihn nicht mehr." Der Mann, der das 1916 schreibt, der deutsche Sergeant Karl Eisler, wird den Giftgasangriff, den Beginn der großen britischen Offensive an der Somme in Nordwestfrankreich überleben. Fast 20.000 Soldaten des Empire werden gefallen sein, als die Sonne untergeht. Es ist der blutigste Tag der britischen Militärgeschichte.

Was sich da bereits zum Gemetzel ungekannten Ausmaßes entwickelt hat, ist noch kaum zwei Jahre zuvor als Erlösung bejubelt worden. Krieg, endlich Krieg! Dieser Ruf geht 1914 millionenfach durch die Hauptstädte des Kontinents, auch durch Berlin. Von den Soldaten aber, die auf dem Weg an die Front sind, weiß keiner, was das wirklich bedeutet, Krieg - das Reich hat 43 Jahre zuvor letztmals in Europa Krieg geführt, gegen Frankreich.

"Zum Preisschießen nach Paris"

Der war zwar auch blutig und unerwartet lang gewesen, aber die Erinnerung verklärte ihn zum heroischen Spaziergang. "Zum Preisschießen nach Paris" steht jetzt auf den Eisenbahnwaggons, in denen die Soldaten an die Front rollen. Und die Landser singen: "Russischer Kaviar, französischer Sekt, deutsche Hiebe - ei, wie das schmeckt!" Ihre Illusionen sind das erste Kriegsopfer.

Der Sturz von den Höhen des ungeheuren Optimismus', der die Jahrhundertwende begleitete, in die schockierende Realität der Schützengräben ist für die Deutschen besonders hart. Denn das Kaiserreich - dieser spät, wohl zu spät geborene Nationalstaat im Herzen des Kontinents - hatte nur so gestrotzt vor Selbstvertrauen.

Deutschland hatte gerade erst Britannien als stärkste Industrienation überrundet. Die Bevölkerung wuchs schnell und mit ihr das natürliche Gewicht des Reichs. Mit dem unduldsamen Ehrgeiz des Nachzüglers träumte Wilhelm II. vom Durchbruch zur Weltmacht, vom "Platz an der Sonne". Und war bereit, dafür auch Krieg in Kauf zu nehmen.

Die Moderne überholt sich selbst

Im Ersten Weltkrieg jedoch überholt sich die stürmisch voranpreschende Moderne selbst. Denn mit der wissenschaftlichen Erkenntnis wächst auch die Fähigkeit zur industriellen Kriegführung.

Das Resultat ist eine grauenhafte Schlächterei, ein jahrelanger Stellungskrieg, in dem die Defensive der Offensive die meiste Zeit überlegen ist - an der Somme, vor Verdun, in Flandern, in Galizien, in den Alpen und an tausend anderen Stellen.

Der Konflikt erweist sich zudem als eine einzige gigantische Eskalation. Bei jeder Etappe steht das Reich in erster Reihe. 1914 ermuntert Wilhelm die Österreicher zu hartem Vorgehen gegen Serbien, nachdem Habsburgs Thronfolger in Sarajevo von einem Serben ermordet worden ist. Fünf Wochen später ist Krieg. Schnell greift Russland ein, dann Deutschland.

Der Krieg entsteht im Osten. Das Deutsche Reich aber hat nur eine Strategie für den Westen: den Schlieffenplan, Anfang des Jahrhunderts entwickelt. Der sieht vor, durch das neutrale Belgien zu marschieren und dann die französische Armee mit einer riesigen Zangenbewegung zu vernichten. Der Plan scheitert an der Marne, kurz vor Paris, zieht aber sofort die Briten als Schutzmacht Belgiens in den Krieg. Ganz Europa steht in Flammen.

Deutsche Kriegsziele

Wenig später formuliert der Reichskanzler deutsche Kriegsziele. Das Programm ist ein Monument der Maßlosigkeit: Teile Frankreichs und Belgiens sowie Luxemburg sollen annektiert werden. Später phantasiert man von einem riesenhaften Kolonialreich in Afrika und von totaler Hegemonie in Osteuropa. Aber das Heer kann das trotz schockierender Verluste nicht durchsetzen.

Um doch noch zu siegen, greift das Reich zu äußersten Mitteln. 1915 setzen deutsche Truppen in Belgien als erste Chlorgas ein. Und dass die deutschen U-Boote ab Februar 1917 auch neutrale Schiffe ohne Vorwarnung angreifen, nötigt die Vereinigten Staaten zur Kriegserklärung: Die Wirtschaft der USA ist abhängig vom ungehinderten Freihandel.

Jetzt ist es wirklich ein Weltkrieg. Die Amerikaner machen ihn prompt zum ersten Kreuzzug für die Demokratie: "Hang the Kaiser" ist ihr Schlachtruf. Spätestens jetzt geht es für Kaiser und Reich um die Existenz. Aber dann scheint es 1917 plötzlich doch noch einen Ausweg zu geben: In Russland ist Revolution. Wenn das innerlich schon längst geschwächte Riesenreich als Kriegsgegner ausfiele, gäbe es vielleicht noch eine Siegeschance. Die neue bürgerliche russische Regierung will den Krieg jedoch fortsetzen - anders als die radikalen Bolschewiken.

Kaiserreich als Geburtshelfer

Also lässt Kaiser Wilhelm II. deren Führer, Wladimir Iljitsch Lenin, in einem verplombten Waggon durchs Reich in die Heimat reisen, Lenin reißt die Macht an sich. Das Kaiserreich wird so zum Geburtshelfer des ersten kommunistischen Regimes der Welt. Ein paar Monate später scheidet Russland tatsächlich aus dem Krieg aus - zu Bedingungen, die das Reich diktiert.

Doch auch das ist Wilhelm nicht genug. Noch 1918 zimmern deutsche Truppen in den Revolutionswirren zwischen Finnland und Kaukasus ein riesiges Machtgebilde zusammen, während im Westen der Krieg verlorengeht. Deutsche Truppen erobern die Ukraine und entscheiden den finnischen Bürgerkrieg. Doch das Ost-Imperium verflüchtigt sich mit dem Waffenstillstand im November. Der Kaiser dankt ab, Deutschland wird Republik.

Folgenschwerer noch als die politische und militärische Eskalation aber ist der kulturelle Schock, den der "Sprung ins Dunkle" (Reichskanzler Bethmann Hollweg) nach sich zieht. Denn die Zuversicht der Jahrhundertwende ist 1918 tot. Die Kaiserreiche Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland sind untergegangen - mit ihnen das alte Europa, die alte Welt. Hass auf die junge Demokratie scheint vielen ein einfacher Ausweg aus der daraus folgenden tiefen Verunsicherung zu sein.

Das aber erweist sich als unheilvoller Nährboden für autoritäre und totalitäre Bewegungen in Italien, in Deutschland und in den meisten Ländern Osteuropas. Da hilft auch nichts, dass der von Rachegedanken diktierte, als Schande empfundene Versailler Vertrag am Ende wohl eher Deutschlands Stellung stärkt, weil er dem Reich mit dem jetzt zersplitterten Osteuropa eine natürliche Einflusszone schafft.

"Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" hat der US-Diplomat George F. Kennan den Ersten Weltkrieg genannt. Mit Recht: Der Frieden von 1919 ist bloß ein Waffenstillstand. Zwanzig Jahre später setzt Europa erneut zur Selbstzerstörung an.

(RP)
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