Solidaritätskundgebungen in Berlin Es ist nicht leicht, Kippa zu tragen

Berlin · In Berlin wollen Demonstranten ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen. Aber selbst dabei kommt es zu Auseinandersetzungen.

Demonstranten wollten in Berlin ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen. So wie in vielen Großstädten lautete das Motto "Berlin trägt Kippa". Doch in Neukölln musste eine Demonstration gegen Antisemitismus schon nach wenigen Minuten abgebrochen werden.

Gideon Joffe ist überwältigt. "Diese Solidarität zu spüren, ist un-glaublich!", ruft er in die Fasanenstraße vor dem jüdischen Gemeindehaus in Berlin. Eine Woche nach der antisemitischen Attacke eines Syrers auf einen israelischen Studenten im Bezirk Prenzlauer Berg hat am Mittwochabend im Stadtteil Charlottenburg die Aktion "Berlin trägt Kippa" begonnen.

Etliche weitere Städte, von Köln über München, Frankfurt bis hin nach Magdeburg, haben sich angeschlossen. Überall wird an diesem Abend per Kopfbedeckung gezeigt, was der Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Josef Schuster, auf den Punkt bringt: "Es reicht!"

Aber beklemmender könnte der Kontrast an diesem Tag in Berlin kaum sein. Sechs Kilometer von der Fasanenstraße entfernt muss im Stadtteil Neukölln eine andere Demonstration gegen Antisemitismus schon nach wenigen Minuten abgebrochen werden, weil sich eine Gruppe von der dabei gezeigten israelischen Flagge provoziert fühlt. Die Polizei schreitet ein, um Schlimmeres zu verhindern.

"Ist doch alles nicht so schlimm? Doch, es ist schlimm!"

Wie es um die Situation von Juden in Deutschland im Jahr 2018 bestellt ist, zeigt schon das Wachhäuschen vor dem jüdischen Gemeindehaus an der Fasanenstraße: Rund um die Uhr Polizeischutz. Auch Joffe braucht Personenschutz, wenn er sich durch seine Stadt bewegen will.

Schuster listet sieben Vorfälle in Berlin auf: Der zusammengeschlagene Rabbiner, das auf dem Ku'damm beschimpfte israelische Ehepaar, die verbrannten israelischen Fahnen, der beschimpfte israelische Gastronom, die "Echo"-Preis-Verleihung für Rapper, die Holocaust-Opfer verhöhnten, und der Kippaträger, der vor einer Woche attackiert wurde.

Schuster schildert das Lebensgefühl in jüdischen Familien, die den Söhnen eintrichtern, die Kippa nach dem Gottesdienst abzusetzen, die Mädchen empfehlen, die Kette mit dem Davidstern unterm Pulli verschwinden zu lassen. Deutschland habe sich "viel zu gemütlich eingerichtet", sagt Schuster und stellt fest: "Ein bisschen Antisemitismus, ein bisschen Rassismus, ein bisschen Islam-Feindlichkeit - ist doch alles nicht so schlimm? Doch, es ist schlimm!"

2500 Demonstranten kommen

Und deshalb fordert er "100 Prozent Respekt!" Beifall von den vielen, die an diesem Abend in die Fasanenstraße gekommen sind. Tausend hat die jüdische Gemeinde angemeldet. Nach Schätzungen der Polizei sind es 2500 geworden. Ein Erfolg. Aber gemessen an anderen spontanen Kundgebungen in Berlin ein übersichtlicher.

Viele tragen zum ersten Mal im Leben die jüdische Kopfbedeckung. Es ist nicht leicht, Kippa zu tragen, gerade an diesem Abend, an dem heftige Windböen durch die Fasanenstraße wehen. Viele müssen sich mehrfach bücken, weil sie ihnen vom Kopf fliegen. Erfahrene Kippa-Träger haben sich vorbereitet: Mit Haarklammern geht es besser.

Auch Lisa Wagner (27) hat eine Klammer aus der Menge gereicht bekommen. Nun hält die weiße Kippa deutlich besser in ihren blonden Haaren. Sie hat sich als Christin ganz bewusst entschieden, in die Fasanenstraße zu kommen. Als Religionslehrerin wisse sie, wie "spannend diese Religion" sei.

Und so ist sie "traurig, dass man Angst haben muss, wenn man eine Kippa trägt". Gerda Ehrlich trägt keine Kippa. Aber ein selbstgemachtes Transparent. "Das Judentum gehört zu Deutschland", hat sie darauf geschrieben. Und auch sie verwendet das Wort "traurig". Sie bezieht es darauf, dass "heute Selbstverständliches nicht mehr selbstverständlich ist"

Änderungen in Lehrplänen geplant

Großen Applaus erntet auch der Berliner Landesbischof Markus Dröge, der nach eigenem Bekunden nicht zum ersten Mal Kippa trägt. Er hat eine Botschaft des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland mitgebracht. Die feste Überzeugung: "Antisemitismus ist Gotteslästerung." So weit die interreligiöse Sicht.

Die politische kommt von Unionsfraktionschef Volker Kauder. Er will Konsequenzen aus der Häufung antisemitischer Vorfälle ziehen und deshalb bald mit den Kultusministern in Deutschland reden. Er glaubt, "dass sich in den Lehrplänen unserer Schulen einiges ändern muss."

Berlins Kultursenator von der Linkspartei, Klaus Lederer, wendet sich gegen "vermeintlich linke" Aktivisten, die aus Solidarität mit den Palästinensern gegen alles Israelische vorgingen und stets schwiegen, wenn die radikalislamische Hamas die eigene Bevölkerung als menschlichen Schutzschild missbrauche. Diese Doppelstandards seien "blanker Antisemitismus", ruft der Linken-Politiker.

Eine ganze Reihe weiterer Redner beschwört vor dem alten Synagogen-Eingang an der Front des Gemeindezentrums das "Nie Wieder". Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller nimmt seine eigene Stadt besonders in die Pflicht, weil von hier aus der Holocaust gesteuert wurde.

Aber an diesem Abend tut Juden nicht nur die Solidarität gut. Einer freut sich darüber, dass auch viele Frauen die Kippa tragen. "Das müssen Hunderte sein", sagt er begeistert. Und ein anderer schmunzelt: "Lass das bloß nicht die Orthodoxen sehen." Ein bisschen Ironie inmitten der Empörung. Erkennbar tut auch das gut.

(may-)
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