Zehn Jahre Kanzlerin Flüchtlingskrise — Merkels letzter Kampf?

Berlin/München · Im zehnten Amtsjahr steht Kanzlerin Angela Merkel an einem Wendepunkt. Ihre Position in der Flüchtlingspolitik ist in der Partei und in der Bevölkerung umstritten. Nun dreht Merkel bei. Schrittweise. Ob das reicht? Eine Analyse.

Parteitag: Kühler Empfang für Angela Merkel bei der CSU
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Kühler Empfang für Angela Merkel bei der CSU

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Foto: afp, CS/dg

In einer Hitliste der am häufigsten zitierten Eigenschaften der Kanzlerin würden ihre Zögerlichkeit und ihr Wankelmut wohl ziemlich weit oben stehen. Kaum ein Porträt über Angela Merkel kommt ohne diese Zuschreibungen aus. Doch im zehnten Jahr ihrer Amtszeit lernten die Deutschen eine neue Seite der angeblich so prinzipienlosen Frau aus der Uckermark kennen. In der Flüchtlingskrise fuhr Merkel eine Linie des schrankenlosen Willkommens, jenseits aller Ordnungspolitik.

Keine Obergrenze für Asylbewerber, hieß ihr Credo. Ihre einsame und umstrittene Entscheidung, im September Ungarn-Flüchtlinge entgegen aller EU-Abkommen nach Deutschland einreisen zu lassen, werten auch Merkel-Vertraute als untypisch. Spontan, aus einer humanitären Verpflichtung heraus. Man hätte die Fernsehbilder mit den chaotischen Verhältnissen in Ungarn nicht lange ausgehalten, hat Merkel dies mal in einem kleinen Kreis begründet.

Doch danach kamen immer mehr Menschen. Hunderttausende. Am Freitag waren es wieder 8000 Zufluchtssuchende, die über die bayerische Grenzen strömten. Das Donnergrollen der CSU wurde lauter. Auch die Wirtschaft ist in Sorge, die Umfragewerte für Merkel sind im Sinkflug. Der Druck wirkte. Merkel verlegte den Fokus in den vergangenen Tagen auf den ordnenden Aspekt. Bei ihrem mit Spannung erwarteten Auftritt beim CSU-Parteitag am Freitag in München dann der rhetorische Schulterschluss mit der Schwesterpartei. "Wir müssen die Abläufe an den nationalen Grenzen ordnen", sagte Merkel.

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Foto: dpa, shp

Sie forderte die Registrierung der Flüchtlinge, die konsequente Abschiebung der abgelehnten Asylbewerber, den Abbau der Fehlanreize und die Kürzung der Leistungen. CSU-Politik pur. Und dann der Satz, auf den alle warteten: "Wir werden die Zahl der Flüchtlinge reduzieren." Allerdings betonte Merkel auch, dass es nur eine europäische Lösung geben könne. Die nationale Obergrenze lehne sie weiter ab. Der Applaus für die CDU-Chefin nach der überraschend kurzen Rede war denn auch verhalten. CSU-Chef Horst Seehofer ließ es sich nicht nehmen, der anwesenden Kanzlerin noch auf der Bühne zu drohen, dass man sich zum Thema Obergrenze "noch einmal wiedersehen werde".

Angela Merkel, die Wankelmütige? In der Flüchtlingsfrage zeigt sich die Kanzlerin zusehends geschmeidig. Diese Krise, das ist auch im Kanzleramt Konsens, ist so tiefgehend, dass sie nicht in ein paar Monaten wegmoderiert werden kann. Die noch vor Jahren gültige Gleichung, wonach Deutschland satt und zufrieden ist, so lange nur "Mutti" regiert, geht nicht mehr auf. Die Bürger sind tief verunsichert. Das ist eine neue Erfahrung für die pragmatische Problemlösungskanzlerin. Die Menschen fragen: Warum kann die mächtigste Frau der Welt nicht die Grenzen ihres eigenen Landes effektiv kontrollieren? Hat sie es noch im Griff?

Angela Merkel: Porträt der Bundeskanzlerin von Deutschland in Bildern
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Das ist Angela Merkel

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Foto: dpa, Patrick Seeger

Oft wurde der in der DDR aufgewachsenen Pfarrerstochter vorgeworfen, dass sie zwar die Freiheit schätze, aber in Wahrheit kein Herz für Europa habe. Insbesondere in der Euro-Krise musste sie mit diesem Vorwurf von Euro-Kritikern und Spar-Gegnern leben. Dabei verstand sie ihre Euro-Politik immer als Instrument zur Beibehaltung des Euros. Nur wenn sich Staaten an die Regeln halten — finanzielle Solidität! — kann der Euro sich stabilisieren. Bisher ist dies bei allen Problemen gelungen. Nur war es in der Flüchtlingskrise Merkel selbst, die EU-Recht missachtete und das Dublin-Abkommen, wonach die Flüchtlinge dort registriert werden müssen, wo sie zuerst europäischen Boden betreten, endgültig außer Kraft setzte. Horst Seehofer nannte dies "einen schweren politischen Fehler".

Die Kanzlerin war überzeugt, dass das freie, menschenwürdige Europa in Gefahr ist, wenn Deutschland Flüchtlinge über Österreich und den Balkan zurückschiebt. Und sie betont immer wieder, dass nur eine europäische Lösung wirklich helfe. Das mag stimmen. Das Problem ist nur: Europa lässt Merkel hängen. Die "faire Verteilung", von der Merkel seit Wochen spricht, steht nur auf dem Papier. Mehrere Länder lehnen jedes Abkommen ab. Es ist die Ironie der Geschichte dieser nüchtern und abwägend agierenden Kanzlerin, dass sie in dem Moment, in dem sie die humanitäre Verpflichtung jeder polit-logischen Vorgehensweise vorzieht, international scheitert. "Die Menschen kommen doch, ob wir wollen oder nicht", sagte Merkel neulich. Es klang fast verzweifelt.

Vielleicht ist Merkel nach zehn Jahren im Amt bereit, das Risiko des Amtsverlusts einzugehen. Sie widersprach ihrem Amtsvorgänger Gerhard Schröder nicht, als dieser bei der Präsentation seiner Biografie betonte, dass ein Kanzler seine Überzeugung auch unter Gefahr durchhalten müsse, das Amt verlieren zu können. Bei Schröder waren es die Agendareformen. Sind es bei Merkel die Flüchtlinge?

Angela Merkel – herausragende Momente einer Kanzlerin (in Bildern)
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Angela Merkel – herausragende Momente einer Kanzlerin

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Foto: dpa/Peter Kneffel

Es ist schon eineinhalb Jahre her, als Merkel rund um ihren 60. Geburtstag im Zenit ihrer Macht stand und der US-amerikanische Präsident in der Ukraine-Krise betonte, dass er auf den Rat Merkels höre. Es gelang Merkel, einen (allerdings brüchigen) Waffenstillstand in der Ukraine zu verhandeln und in der Euro-Krise die Griechen auf Linie zu zwingen. Die Welt staunte über die schlaue Deutsche, der keine Krise schwer genug zu sein schien. Derweil sie ein Land regierte, das sich ordentliche Rentenerhöhungen und die Abschaffung der Atomkraft leisten zu können scheint, und Jugendarbeitslosigkeit nur aus Südeuropa kennt. Der Koalitionspartner und die Opposition im Land fügten sich in die Vorstellung, dass so lange Deutschland von dieser wendigen Schwarz-Rot-Grünen regiert wird, eigene Kanzlerkandidaten nur Kanonenfutter für Wahlkämpfe sind.

Doch diese Krise ist anders. Zu viele Probleme, zu wenig Verbündete. In Hinterzimmern wird über mögliche Nachfolger, Wolfgang Schäuble und Ursula von der Leyen, diskutiert. Der eine als Übergangslösung, die andere als Neustart. Je nach Perspektive. Auch die CSU-Delegierten mühten sich am Freitag nur zu einem verhaltenen Applaus. Wenn Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag Mitte Dezember nicht spürbar niedrigere Flüchtlingszahlen und eine neue Ordnung an den Grenzen vorweisen kann und so das Bild der Krisenmanagerin aufpolieren kann, wird die Erosion ihrer Macht nicht mehr aufzuhalten sein.

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(RP)
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