Pegida, AfD und Co. Die drei Irrtümer der "Asylkritiker"

Düsseldorf · Die Flüchtlingskrise strapaziert die deutsche Weltoffenheit. Der Teufel an der Wand heißt Überfremdung, auch wenn man das heute ungern so sagt. Dieses Kirchturmsdenken fußt aber auf Missverständnissen - den drei Irrtümern der "Asylkritiker".

Pegida: Tausende bei "Pegida"-Demo am 19. Oktober 2015
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Tausende bei "Pegida"-Demo am 19. Oktober 2015

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Die Stimmung kippt. Das erste Lachen weicht im Dorf schnell dem Misstrauen. Die Neuankömmlinge sind nach ihrer Odyssee unzufrieden mit der Unterkunft, die man ihnen zugewiesen hat. Schon wird ihre Tochter als "Flittchen" beschimpft. Die erste Massenschlägerei folgt am Abend. Und weil Wahlkampf ist, blüht im Dorf der Populismus. Ein Kandidat verspricht eine "unerbittliche" Politik. "Ich hab' nichts gegen Fremde", sagt er beim Abwasch zu seiner Frau: "Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier."

Deutschland im Jahr 2015?

Nein, Gallien im Jahr 50 vor Christus. Asterix-Band 21, "Das Geschenk Cäsars". Die Neuankömmlinge sind keine Syrer, sondern provençalische Gastwirte, die auf verschlungenen Wegen an eine Besitzurkunde über das kleine gallische Dorf gelangt sind. Ein nettes Lehrstück über Fremdenfeindlichkeit.

Pressestimmen zu einem Jahr Pegida: In Dresden gehen Tausende auf die Straßen
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"In Dresden zeigte sich, wie tief Deutschland gespalten ist"

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Foto: qvist /Shutterstock.com/Retusche RPO

Aber Deutschland 2015 ist wie das gallische Dorf. "Ich bin ja kein..., aber"-Sätze sind allerorten zu hören. Die AfD surft dreist auf der Angstwelle, in Dresden hetzen Tausende gegen Flüchtlinge. Es wird (und nicht nur seitens der intellektuell nicht Satisfaktionsfähigen bei Pegida) von kultureller Selbstaufgabe geredet, von Kapitulation, von reißender Islamisierung. Der Teufel an der Wand heißt, auch wenn man das nicht mehr gern so nennt, Überfremdung. Es gibt dafür neue Wörter: "Angsträume" für deutsche Frauen, "Asylchaos", "Gutmenschen-Faschismus".

Bei näherer Betrachtung liegen der Kleines-Dorf-Mentalität drei Missverständnisse zugrunde.

Erstens: Religion wird überschätzt.

Rund drei Viertel der Asylanträge 2015 entfallen bisher auf zehn Länder. Von diesen wiederum kommt knapp die Hälfte aus mehrheitlich muslimischen Staaten (Syrien, Afghanistan, Irak, Pakistan). Wir erleben massive muslimische Zuwanderung. Viele Muslime sind aber gerade vor religiösen Fanatikern geflohen - dem IS in Syrien und im Irak, den Taliban in Afghanistan - und dürften daher wenig Interesse an Deutschlands Islamisierung haben. Die Behörden fürchten zwar Zuwanderung von Dschihadisten, haben aber bisher keine Anhaltspunkte dafür. Zudem war Syrien für nahöstliche Verhältnisse eher säkular - bis der IS kam. Schlägereien in Flüchtlingsheimen sind auch nicht meist religiös motiviert. Das sagt eine Instanz, die es wissen muss: die Gewerkschaft der Polizei. Konflikte entstünden in der Enge der Massenunterkünfte meist wegen nichtiger Anlässe.

Der Islam, das zeigen Studien, ist für etwa die Hälfte der Deutschen Projektionsfläche ihrer Identitätsängste. Auch wenn es Glaubenskonflikte unter Flüchtlingen gibt: Religiösen Unfrieden größeren Ausmaßes haben bisher nur die selbst ernannten Retter des christlichen Abendlandes gestiftet - mit dem Absingen von Weihnachtsliedern auf einer Pegida-Demonstration.

Zweitens: Integration bedeutet nicht zwangsläufig Homogenität.

Die Idee, eine funktionierende Gesellschaft bedinge maximale Ähnlichkeit ihrer Mitglieder und sozialer Zusammenhalt sei nur bei gleicher Herkunft möglich, stammt aus dem 19. Jahrhundert, der Ära des Nationalstaats. Moderne Gemeinwesen funktionieren anders. Seit 1945 haben sich in Deutschland viele Selbstverständlichkeiten verflüchtigt: Die Vertreibung beendete vielerorts die konfessionellen 100-Prozent-Verhältnisse - katholische Oberschlesier und evangelische Ostpreußen mussten unterkommen, wo Platz war, nicht wo es bekenntnismäßig passte. Und die "Gastarbeiter" brachten nicht nur Zucchini und Moussaka mit, sondern beendeten auch die nationale Homogenität. Seither leben in Deutschland nicht mehr fast ausschließlich Deutsche. Heute beträgt der Ausländeranteil in der Bundesrepublik etwa zehn Prozent.

Drittens: Das Aussehen unserer Gesellschaft unterliegt nur sehr bedingt staatlicher Kontrolle.

Politisches Asyl ist in Deutschland nach seiner Stellung im Grundgesetz vergleichbar mit dem Recht auf Privatsphäre und der freien Berufswahl - kein Recht, das der Staat gnädig gewährt, sondern eins, das ihn unmittelbar bindet. Anerkannte Asylbewerber sind deshalb keine Gäste wie ein lästiger Verwandter auf der Schlafcouch, sondern nehmen ihr Menschenrecht in Anspruch. Asylanträge von Syrern und Irakern werden zu rund 90 Prozent anerkannt, die von Afghanen knapp zur Hälfte. Beides zusammen legt einen Schluss nahe: Das Gesicht dieses Landes wird sich verändern.

Man kann das kritisieren, aber nur schwer beeinflussen - es sei denn, es gelingt, Nahost, Afghanistan und Afrika kurzfristig zu befrieden, was freilich unwahrscheinlich ist. Über eine Kontrolle regulärer Zuwanderung durch Quoten und/oder Gesetz ist damit noch nichts gesagt. Man muss nur Asyl und Zuwanderung trennen. Zuwanderung kann begrenzt werden, Asyl nicht. Wie sollte das auch gehen? Sollen Kriegsflüchtlinge aus Syrien ab, sagen wir, November an der Grenze abgewiesen werden, weil die Quote erschöpft ist? Womöglich mit dem freundlichen Hinweis, es doch im Januar wieder zu versuchen? Unvorstellbar, zumindest solange dieses Land sich treu bleiben will.

Unser Zusammenleben entzieht sich erst recht staatlicher Kontrolle - abgesehen von den Gesetzen, die für Deutsche wie für Neuankömmlinge gelten und mit denen auch mancher Deutsche liebe Mühe hat. Die ersten 20 Artikel des Grundgesetzes sind eine Art Idealtypus unseres Gemeinwesens. Sie sollen einem 25-jährigen Syrer nicht vermittelbar sein, weil er aus einer patriarchalischen Diktatur kommt? Mit demselben Argument hätte man 1989 sagen können, die Ostdeutschen seien nach 40 Jahren Sozialismus demokratieunfähig. Es wäre ebenso unsinnig gewesen.

Es wird also Zumutungen geben. Das predigte Ende September auch Bischof Franz-Josef Overbeck im Essener Dom: "Wie die Flüchtlinge ihre Lebensgewohnheiten ändern müssen, so werden auch wir es tun müssen. Dies ist nicht nur Ausdruck der Willkommenskultur, sondern der Entwicklung unserer Welt." Er hat dafür einen Shitstorm geerntet, in dem Austrittsdrohungen das Harmloseste waren. Overbeck wurde virtuell niedergebrüllt.

Die Stimmung ist gekippt in unserem kleinen deutschen Dorf.

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(fvo)
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