Politische Kultur Rechtsextremismus infiltriert die Mitte

Berlin · Extremismus und Populismus am rechten Rand führten in Deutschland - abgesehen von gelegentlichen regionalen Phänomenen - ein Nischendasein. Das hat sich geändert. Die Mitte der Gesellschaft radikalisiert sich.

 "Pegida"-Anhänger in Dresden.

"Pegida"-Anhänger in Dresden.

Foto: dpa, rhi cul

Als im Sommer 2010 ein gewisser Thilo Sarrazin, Sozialdemokrat und früherer Berliner Finanzsenator, sein Buch "Deutschland schafft sich ab" vorlegte, war die Aufregung im Land groß. Überraschend viele Menschen kauften das Buch und bekannten sich zu den Thesen, die voller ausländerfeindlicher Ressentiments, Überfremdungsangst und nationalem Chauvinismus steckten.

Warum stimmen so viele Menschen Sarrazin zu, und was ist dran an seinen Thesen? Diese Frage beschäftigte die Öffentlichkeit über Monate. Wer schon länger genauer in die politische Gemütslage der Nation hineinhorchte, musste nicht überrascht sein.

Hinein in die bürgerliche Kreise

"Vorurteile, die Grundlage von rechtsextremistischen Verhaltensmustern sein können, sind in der Mitte der Gesellschaft seit Langem vorhanden", sagte Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Bloß seien viele dieser Ansichten bisher nur unterschwellig geäußert worden. Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen sieht die Gefahr, dass sich dies in der Flüchtlingskrise ändert. "Wir beobachten im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise, dass rechtsextremistisches Gedankengut mehr und mehr in bürgerliche Kreise hinein diffundiert", sagte Maaßen unserer Redaktion. "Das macht uns zunehmend Sorge."

Während rechtsextreme Agitatoren ein Fall für den Verfassungsschutz darstellen, befassten sich eine Reihe von Forschern seit Jahren damit, in welchem Umfang das Volk empfänglich ist für deren Einflüsterungen. Seit 2002 aktualisieren Leipziger Rechtsextremismus-Forscher alle zwei Jahre ihre "Mitte"-Studie zu rechtsextremen Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft, die auf repräsentativen Umfragen beruht.

Zusammenhang mit Flüchtlingskrise

Die Forscher haben eine Reihe von Faktoren herausgefiltert, die aus ihrer Sicht ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild ausmachen. Dazu gehören die Befürwortung einer Diktatur gegenüber der Demokratie, ein nationalistischer Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und die Verharmlosung des Nationalsozialismus. Rechtsextreme fallen in jeder dieser Kategorien mit überdurchschnittlicher Zustimmung auf.

Nach der letztverfügbaren "Mitte"-Studie von 2014 - vor Ausbruch der Flüchtlingskrise - hatten gemessen an diesen Kriterien nur noch 5,6 Prozent der Bürger ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. Das waren deutlich weniger als 2002. Damals erreichte der Wert 9,7 Prozent. Mit dem Ausbruch der Flüchtlingskrise dürfte der Indikator wieder deutlich angestiegen sein.

Verfestigt sich der Trend

Dies mutmaßt auch Bundeszentrale-Präsident Thomas Krüger: "Jetzt steht zu befürchten, dass die Bindungskräfte der Mitte nachgelassen haben", sagte er. Das heiße aber nicht, dass sich das auf Dauer verfestigen müsse, weil gleichzeitig auch eine zivilgesellschaftliche Mobilisierung stattfinde. Noch sei nicht klar, "ob es sich nur um eine rechtsextreme Konjunktur handelt oder ob sich das dauerhaft niederschlägt."

Interessant sind die Parteipräferenzen, die die Leipziger Forscher bei jenen Wählern ausmachen, denen sie ein rechtsextremes Weltbild zuordnen. Diese würden nämlich den beiden großen Volksparteien zuneigen. Der "Mitte"-Studie zufolge stufen sich 21,4 Prozent der Menschen mit rechtsextremem Weltbild als CDU-Wähler ein, 24,6 Prozent als SPD-Wähler. Die Alternative für Deutschland (AfD) kam dagegen 2014 nur auf 6,3 Prozent, die Linke auf 7,1 Prozent und die Fraktion der Nichtwähler auf 23 Prozent.

Aus Einstellung wird Verhalten

Seit Beginn seiner Langzeit-Studie stellt der Leipziger Rechtsextremismus-Forscher Oliver Decker eine anhaltend hohe Ausländerfeindlichkeit gerade im bürgerlichen Milieu der CDU/CSU- und der SPD-Wähler fest. "Die ausländerfeindliche Einstellung war in der Mitte der Gesellschaft immer schon enthalten", sagt Decker. Neu sei allerdings in den vergangenen eineinhalb Jahren, "dass sich diese Einstellung in Teilen der Bevölkerung auch im Verhalten niederschlägt".

Aus Sicht des Leipziger Forschers unterscheiden viele Bürger zwischen zwei Klassen von Ausländern. "Solange Migranten etwas ,bringen', etwa, wenn sie dabei helfen, den Facharbeitermangel zu beheben, sind sie in Deutschland willkommen", sagt Decker. "Doch all jene, die die Fantasie einer Bedrohung der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands wachrufen, werden zum Objekt autoritärer Aggression", betonte der Forscher. Derzeit lasse sich ein Trend weg von generalisierten Vorurteilen gegen Ausländer hin zur Abwertung von Muslimen, Sinti und Roma sowie insbesondere Flüchtlingen feststellen.

Dramatischer Zuwachs für die AfD

So überrascht es auch nicht, dass die Wähler der seit ihrer Spaltung radikalisierten AfD zu einem großen Teil auch aus dem als Mitte wahrgenommenen Teil der Gesellschaft kommen. "Die AfD hat bisher Wähler von allen anderen Parteien abgezogen", sagte der Berliner Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer. Überdurchschnittlich viele seien meistens von der FDP und in einigen Fällen von der CDU gekommen, am wenigsten fast immer von den Grünen. Prozentual gesehen hätten die nicht in den Parlamenten vertretenen Kleinstparteien die meisten Wähler an die AfD verloren.

Für die Landtagswahlen am 13. März in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt zeichnet sich den Umfragen zufolge ein dramatischer Zuwachs für die AfD ab, den sie sich von bisherigen Nicht- und Splitterpartei-Wählern, aber vor allem auch von den etablierten Parteien und damit aus der Mitte der Gesellschaft holt. Nach den aktuellen Umfragen wird sie in Sachsen-Anhalt sicher im zweistelligen Bereich liegen (Februar-Umfrage 17 Prozent) und könnte auch in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz auf etwa zehn Prozent kommen.

(mar / qua)
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