Flüchtlingszahlen Geordnet, begrenzt, aber erst am Anfang

Meinung | Berlin · Deutschland hat im vergangenen Jahr rund 280.000 Flüchtlinge aufgenommen - deutlich weniger als im Rekordjahr 2015. Der vielzitierte staatliche Kontrollverlust von damals scheint abgestellt. Dennoch gibt es noch eine Menge zu tun.

 Flüchtlinge warten im Herbst 2015 in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in Regensburg.

Flüchtlinge warten im Herbst 2015 in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in Regensburg.

Foto: dpa, awe pzi cul rho

Ordnen, steuern, begrenzen. Diesen Vorsatz fasste die Kanzlerin Ende 2015 mit Blick auf die Flüchtlingsentwicklung. 13 Monate später kann ihr Innenminister Thomas de Maizière mit genau diesen Worten Vollzug melden. Dazu haben viele Personen, Entscheidungen und Gesetzesänderungen beigetragen. Und auch der scheidende Chef des Bundesamtes für Migration, Hans-Jürgen Weise, hat mit seinen Manager-Qualitäten herausragenden Anteil daran, dass eine auf 30.000 Flüchtlinge eingestellte Behörde auf die Bewältigung von fast 700.000 Anträgen hochgeschraubt werden konnte.

Es hat unterwegs oft gehakt, und auch heute ist Deutschland von einem optimalen Umgang mit zu Recht und zu Unrecht Schutz beanspruchenden Menschen noch weit entfernt. Dann müssten derzeit deutlich mehr gehen als kommen. Denn eine Schutzquote von 62 Prozent bedeutet auch, dass 38 Prozent das Land zu verlassen haben. Da mögen 55.000 freiwillige Ausreisen und 25.000 Abschiebungen imposante Steigerungen darstellen — sie reichen bei weitem nicht, um einen verlässlichen Umgang mit Regeln und Gesetzen nachzuweisen.

Der vielzitierte staatliche Kontrollverlust vom Frühherbst 2015 scheint abgestellt. Weise versichert, nun jede Identität jedes registrierten Flüchtlings sicher vorliegen zu haben. Und er garantiert auch, dass nun Mehrfachregistrierungen und Asylleistungsbetrug in großem Stil nicht mehr möglich seien. Denn inzwischen hätten alle 600 Ausländerbehörden Zugriff auf eine Zentraldatei, in der alle neu Ankommenden per Fingerabdruck zweifelsfrei zugeordnet werden könnten. Im Umkehrschluss lernen wir daraus, dass der Zustand vor der Flüchtlingsdynamik ein gewollter Kontrollverlust war: Polizei sollte nicht wissen, was die Asylbehörde weiß. Und umgekehrt. Und untereinander funktionierte auch kein Datenaustausch. Das lud zum Missbrauch und zur Behördenübertölpelung geradezu ein.

Und selbst das zur besseren Übersicht und Administration geschaffene EASY-Flüchtlingserfassungssystem förderte bis ins Jahr 2016 hinein einen grundsätzlichen Vertrauensverlust: Wer nicht weiß, wie viele der registrierten Flüchtlinge doppelt und dreifach verzeichnet wurden, wie viele noch nicht registriert sind und wie viele längst wieder das Land verlassen haben, obwohl sie weiter gezählt werden, der bestätigt jeden Verdacht, die Mindestanforderungen an einen funktionierenden Staat nicht mehr zu erfüllen.

Dass dies mit einer zentralen und lückenlosen Speicherung nun flächendeckend in Deutschland zu funktionieren scheint, ist freilich im Europa der offenen Grenzen immer noch bloß ein Anfang. Was Deutschland jetzt hingekriegt hat, sollte zur Blaupause für Europa werden: Wo die Grenzen offen sind, müssen die behördlichen Datensammlungen vernetzt sein. Sonst ist das verlorene Vertrauen nicht zurück zu holen, wächst das Misstrauen mit jeder Information, die zurückgehalten wird oder verloren geht, bevor Verbrecher, Gefährder oder Betrüger in einem anderen Land zuschlagen können, obwohl sie andernorts bereits einschlägig bekannt oder sogar beobachtet wurden.

Seehofer und die Obergrenze

Sicher nicht zufällig wies de Maizière darauf hin, dass die 280.000 Flüchtlinge, die 2016 nach Deutschland kamen, nicht die letzte Zahl war, auf die sich die Bürger für die nächsten Jahre einstellen müssen. Hätte alles zu Jahresbeginn schon so gegriffen, wie es am Jahresende bewerkstelligt war, hätten es schon 2016 unter 200.000 sein können. Das klingt danach, als wolle de Maizière den letzten Beleg dafür liefern, dass CSU-Chef Horst Seehofer seine Obergrenzen-Forderung fallen lassen kann. Weil längst erfüllt.

Und es gibt einen weiteren interessanten Befund: Die Debatte ums Asylgrundrecht, mögliche Novellen oder konsequenteren Anwendung entbehrt nahezu jeder statistischen Grundlage. Nur 0,3 Prozent aller Antragsteller bekamen Schutz als Asylberechtigte. Alle anderen, die bleiben durften, wurden als Flüchtlinge oder anderweitig Schutzberechtigte eingestuft. Das sollte auch die künftigen politischen Auseinandersetzungen bestimmen.

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