Interview mit Frank-Walter Steinmeier "Flüchtlingskrise ist Jahrhundertaufgabe"

Berlin · Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnt die Türkei im Interview mit unserer Redaktion vor einem neuen Krieg, hofft auf Fortschritte in der Ukraine und glaubt an einen SPD-Wahlsieg 2017.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier sprach mit unserer Redaktion über Europas Krisenherde.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier sprach mit unserer Redaktion über Europas Krisenherde.

Foto: Dominik Butzmann/laif

Vor drei Tagen erklomm er noch einen Dreitausender-Alpengipfel, nun ist Chefdiplomat Frank-Walter Steinmeier (SPD) wieder in den Niederungen der Krisendiplomatie angekommen. Ein Gespräch über Europas Konfliktherde.

Herr Minister, die Türkei hat sich offiziell dem Kampf gegen den Islamischen Staat angeschlossen, bombardiert aber vor allem kurdische Einheiten. Hat Präsident Erdogan die Nato über den Tisch gezogen?

Steinmeier Wir haben immer gefordert, dass die Türkei eine eindeutige Haltung im Kampf gegen islamistische Gruppen in Syrien einnimmt. Sie tut es jetzt. Dass umgekehrt die NATO der Türkei Solidarität beim Kampf gegen den Terror zusichert, ist konsequent und richtig. Dennoch wäre es fatal für die Türkei und für die Region, wenn über die regionalen Konflikte des Mittleren Ostens der innerstaatliche Friedensprozess mit den Kurden jetzt gegen die Wand fahren würde. Das darf nicht sein. Das haben wir unseren türkischen Gesprächspartnern in den letzten Tagen immer wieder vermittelt. Die türkische Führung hat uns und den europäischen Partnern zugesichert, dass sie am Friedensprozess festhalten will, allerdings auch erwartet, dass die PKK umgehend Angriffe auf türkische Sicherheitskräfte einstellt.

Der Friedensprozess ist doch de facto tot. Was erwarten Sie jetzt von Ankara?

Steinmeier Es geht jetzt darum, die Abwärtsspirale von Gewalt und Vergeltung zu durchbrechen. Es war die jetzige türkische Regierung, die erstmals die Rechte der Kurden behutsam erweitert und Gespräche mit dem Ziel einer Beilegung dieses langjährigen Konflikts auf den Weg gebracht hat. Dieser Fortschritt darf im Gesamtinteresse der Türkei — und nicht nur der Kurden — nicht wieder zerstört werden. Nur auf dem Verhandlungsweg kann ein Rückfall in die gewaltsamen Auseinandersetzungen der 90er Jahre verhindert werden, der in der jetzigen Krisenlage unabsehbare Folgen für die ganze Region hätte.

Wie sehr ist die neue türkische Außenpolitik innenpolitisch motiviert?

Steinmeier Über Motive will ich nicht spekulieren. Richtig ist: Die Türkei hat Anfang Juni gewählt, übrigens mit beeindruckend hoher Wahlbeteiligung. Zurzeit finden Koalitionsgespräche statt: Wir wissen noch nicht, mit wem und ob sie überhaupt zu einem Ergebnis führen werden. Dass erstmals auch eine kurdische Partei ins Parlament gewählt wurde, zeigt jedenfalls, dass die Kurden eine ernstzunehmende politische Stimme im türkischen Parteienspektrum sind. Diese Stimme durch administrative und rechtliche Ausnahmen vom politischen Prozess auszuschließen, hielte ich für unklug.

Das hochentwickelte Deutschland bekommt die Flüchtlingskrise nicht in den Griff. Was läuft da schief?

Steinmeier Nicht wir allein, ganz Europa steht hier in der Tat vor einer Jahrhundertaufgabe, für die es ganz einfache Antworten nicht gibt. Ich bin zunächst einmal froh über die vielen Menschen, die sich ehrenamtlich für die Flüchtlinge, die bei uns ankommen, einsetzen: Soviel zivilgesellschaftliches Engagement hatten wir in diesem Bereich in der Vergangenheit noch nie.

Das kann sich ändern...

Steinmeier Wir werden diesen großen Rückhalt in der Bevölkerung nur erhalten, wenn wir über Schwierigkeiten offen sprechen und glaubwürdig handeln. Ein Problem von vielen ist, dass die Bearbeitung der Anträge zu lange dauert. Das macht den Städten und Gemeinden zu schaffen, die Flüchtlinge aufnehmen. Und auch die Flüchtlinge selbst bleiben zu lange im Ungewissen, wie es mit ihnen weitergeht. Die Ausweitung der sicheren Herkunftsländer auf dem Westbalkan würde das Problem allein nicht lösen, aber helfen, die Verfahren zu beschleunigen.

Braucht Deutschland auch ein neues Zuwanderungsgesetz?

Steinmeier Ich bin fest davon überzeugt — und nicht erst seit gestern! Wir haben uns zu lange etwas vorgemacht. Wir sind ein Einwanderungsland. Die Zuwanderung, die wir brauchen, können wir nicht dem Zufall überlassen. Wir brauchen Steuerung und deshalb neben dem Asylzugang eine zweite Tür für legale Arbeitsaufenthalte. Das könnte den gegenwärtigen Druck auf den Zugang über Asyl lindern helfen. Das gilt gerade auch für die Menschen auf dem Westbalkan. Hier gab es in der Vergangenheit einige positive Schritte, aber wir können noch besser werden.

Tausende Flüchtlinge warten an der französischen Kanalküste unter dramatischen Bedingungen auf eine Überfahrt nach England: Muss nicht auch Großbritannien endlich mehr für die Lösung des Problems tun?

Steinmeier Ohne Solidarität in Europa geht es nicht, und das gilt auch für die Aufnahme von Flüchtlingen. Die europäische Diskussion darf nicht bei einem "wer tut mehr" — "wer tut weniger" stehenbleiben. Deswegen ist es ein wichtiges Zeichen, dass die französische und die britische Regierung eng auch mit der EU-Kommission zusammenarbeiten, um die Situation in Calais zu lösen. Hier sind beide in der Pflicht.

Braucht Europa einen Masterplan, der Kosten, Verteilung und Zuständigkeiten bei dem Flüchtlingsansturm neu regelt?

Steinmeier Die faire Verteilung von Flüchtlingen wird in Brüssel heiß diskutiert. Ein erster Schritt ist mit der Aufnahme auf freiwilliger Basis geschehen, aber damit dürfen wir uns nicht zufrieden geben. Das Ziel vieler Flüchtlinge ist Europa, nicht ein einzelnes Mitgliedsland. Deshalb muss auch jedes Mitgliedsland seinen Teil der europäischen Verantwortung tragen. Nicht nur bei der Flüchtlingsaufnahme, sondern auch dann, wenn es um die Verbesserung der Lebensbedingungen in den wichtigsten Herkunfts- und Transitstaaten geht.

In Griechenland lodert die Krise wieder auf. Die Börse stürzt ab, Regierungschef Tsipras verliert im Parlament Unterstützung. Braucht Griechenland rasche Hilfe der EU, damit das Land nicht ins Chaos schlittert?

Steinmeier Ich hoffe, wie auch alle anderen, dass die jetzigen Verhandlungen der Institutionen und des Euro-Rettungsfonds mit der griechischen Regierung zu tragbaren Ergebnissen führen. Die Mitgliedstaaten der Eurozone haben schließlich genau deshalb für ein neues Hilfsprogramm gestimmt, damit Griechenland aus der Krise findet. Das ist auch in unserem ureigenen Interesse. Ein Auseinanderbrechen der Eurozone müssen wir mit allen verantwortbaren Maßnahmen verhindern.

Hat Deutschlands harte Verhandlungsrolle dem Image Deutschlands bei seinen europäischen Partnern geschadet?

Steinmeier Zweifellos: der Verhandlungsprozess hat Spuren hinterlassen. Das Verhandlungsgebahren des griechischen Finanzministers hat Irritation und Ablehnung in Deutschland provoziert. Aber wahr ist auch, dass die deutsche Rolle in den europäischen Verhandlungsprozessen gerade in den mediterranen Ländern heute kritischer gesehen wird als noch vor Jahren. Manche sagen es offen, manches bleibt unter der Oberfläche. Wir müssen das ernst nehmen, gerade in einer Situation, in der der Norden Europas sich ökonomisch stärker entwickelt als der Süden — aus ökonomischen Unterschieden, die es immer gab in Europa, darf kein dauerhaftes Gegeneinander werden. Wir werden auch in der öffentlichen Debatte noch klarer machen müssen, dass wir für gemeinsame europäische Lösungen stehen und arbeiten und nicht in nationalstaatliche Interessenswahrnehmung zurückfallen wollen. Gerade wir Deutschen dürfen uns nicht der Selbsttäuschung hingeben, für uns würde es ohne Europa einfacher. Kaum jemand in der EU ist so sehr angewiesen auf ein wiedererstarktes Europa wie wir Deutschen.

Die Flüchtlingskrise zeige, wie unmittelbar die Risiken afrikanischer Instabilität Europa treffen, sagt der frühere Bundespräsident Köhler. Haben wir die Krisen in Afrika zu lange ignoriert?

Steinmeier Die Bilder im Fernsehen erwecken den Eindruck, alle Afrikaner wollten nach Europa. Dabei wächst in vielen Ländern Afrikas die Wirtschaft schon seit Jahren, allmählich entsteht dort eine Mittelschicht. Es gibt dort eine immer stärkere Bereitschaft, Eigenverantwortung für die Lösung von Krisen zu übernehmen. Und ein Blick auf Ostafrika zeigt, welche Dynamiken entstehen, wenn politische Stabilität mit wirtschaftlichem Erfolg Hand in Hand geht. Darauf können wir bauen. Und da, wo die Menschen vor Krieg, Diktatur und Armut fliehen, müssen wir uns noch entschiedener damit auseinandersetzen, wie wir den Menschen Perspektiven in ihrer Heimat bieten können.

In der Ost-Ukraine sterben immer noch jeden Tag Menschen: Ist der Waffenstillstand nicht faktisch gescheitert?

Steinmeier Vor einem Jahr standen wir in der Ukraine kurz vor einem offenen Krieg, der nicht nur das Land, sondern für den gesamten europäischen Kontinent verheerende Folgen gehabt hätte. Auch heute ist die Gefahr einer militärischen Eskalation noch nicht gebannt. Noch immer wird geschossen und noch immer sterben Menschen. Doch Fakt ist: Die Konfliktparteien reden miteinander.

Ist Minsk II angesichts der Verletzungen der Waffenruhe noch eine Verhandlungsgrundlage?

Steinmeier Minsk ist und bleibt das einzige Format, zudem sich alle Konfliktparteien bekannt haben. Eine Alternative haben wir nicht.

Wie groß ist der Einfluss der OSZE bisher bei der Überwachung der Front?

Steinmeier Bei allen Rückschlägen, die es gegeben hat und gibt: Ohne die OSZE wäre jeglicher Erfolg im Rahmen des Minsker Friedensprozesses nicht denkbar. Aus unserer Sicht bleibt prioritär: Wir müssen alles tun, damit sich die Lage beruhigt und die OSZE-Beobachter bestmöglichen Zugang und Schutz erhalten, um ihren Auftrag erfüllen zu können. Gerade wenn es um den Abzug leichter Waffen und den lokalen Waffenstillstand in Shyrokyne geht, ist ein ungehinderter Zugang der OSZE-Beobachter unverzichtbar.

Die Ukraine steht vor einer Staatspleite. Wird Europa dem Land stärker als bisher geplant finanziell unter die Arme greifen?

Steinmeier Uns geht es hier nicht nur um die finanzielle Unterstützung. Es liegt im ureigenen Interesse der Ukraine, Reformen umzusetzen und das Land zu modernisieren. Deutschland stellt hierfür fast 700 Millionen Euro an Hilfeleistung und Krediten zur Verfügung, um die ukrainische Wirtschaft wiederzubeleben, die Dezentralisierung zu fördern und das marode Energiesystem effizienter zu machen.

Eine Frage noch an den SPD-Politiker Frank-Walter Steinmeier: Gibt die SPD die Bundestagswahl 2017 schon verloren?

Steinmeier "Wer nicht kämpft, hat schon verloren", hat Bertolt Brecht gesagt. Und dass die SPD kämpfen kann, hat sie in ihrer Geschichte immer wieder gezeigt und wird es ganz sicher auch bei den nächsten Wahlen wieder zeigen. Als Teil der Bundesregierung streiten wir für ein gerechtes, friedliches und modernes Deutschland. Und ich finde, das tun wir sehr erfolgreich, zum Beispiel bei der Mietpreisbremse, beim Mindestlohn und der Staatsbürgerschaft ohne Optionspflicht.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE MICHAEL BRÖCKER.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort