Nach Ärger um Bericht der Bundesregierung Fünf Irrtümer zu Arm und Reich

Berlin · Auch in Deutschland gibt es viele Menschen, die Suppenküchen in Anspruch nehmen müssen und Mülleimer nach Brauchbarem durchwühlen. Dennoch ist die Armut in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Eine Analyse.

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Foto: dpa, Patrick Pleul

Der Armutsbericht der Bundesregierung hat in den vergangenen Wochen für mächtig Ärger gesorgt. Während das Ausmaß von Armut den Liberalen teilweise zu drastisch dargestellt war, werfen Sozialverbände der Regierung Schönfärberei vor.

Es gibt wohl nur wenige Themen, bei denen statistische Daten nach Weltanschauung derart unterschiedlich interpretiert werden können. Anhand des Armutsberichts, den Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) am Mittwoch vorstellte, und anderer Untersuchungen haben wir eine Reihe von gängigen Thesen zum Thema Arm und Reich überprüft.

Die Armut in Deutschland wächst

Diese gängige These ist offenkundig falsch. Der für viele Experten maßgeblichen EU-Definition zufolge lebt in relativer Armut, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in einem Industrieland verdient. Im Jahr 2010 war nach dieser Definition in Deutschland arm, wer als Single weniger als 993 Euro im Monat netto zur Verfügung hatte. Für ein Ehepaar mit zwei Kindern betrug die Einkommensgrenze 2086 Euro. Im Jahr 2011 lagen 15,1 Prozent aller Menschen in Deutschland unter diesen Werten, sechs Jahre vorher waren es dem Statistischen Bundesamt zufolge 14,7 Prozent. Seit 2005 stagniert demnach die Zahl der Menschen, die nach der EU-Definition als relativ arm oder armutsgefährdet gelten.

Die Einkommensspreizung hat zugenommen

Diese gängige These ist, bezogen auf die Zeit zwischen 2006 und 2011, falsch. Der Armutsbericht der Bundesregierung misst die Ungleichheit der Einkommensverteilung anhand des sogenannten Gini-Koeffizienten, benannt nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini (1884 — 1965). Liegt dieser Koeffizient bei 0,0, bezögen alle ein gleich hohes Einkommen, bei 1,0 fiele das gesamte Einkommen auf nur eine Person. In Deutschland stagniert die Einkommensungleichheit seit 2005 in etwa auf dem Wert von 0,29.

Das ist im europäischen Vergleich ein niedriger Wert, im internationalen Vergleich ist die Ungleichheit in Deutschland demnach sogar extrem gering. "Von 2005 an hat im Zug der konjunkturellen Besserung und der damit einhergehenden Aufhellung der Lage auf dem Arbeitsmarkt die Einkommensungleichheit in Deutschland abgenommen", schrieb auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Mitte Dezember in seiner jüngsten Analyse. Diese Entwicklung war in Ostdeutschland stärker als in Westdeutschland. Der Gini-Koeffizient ist dort um knapp neun Prozent, im Westen um drei Prozent gesunken.

Das DIW, das die für solche Analysen zentrale sozial-ökonomische Datenbank betreibt, fragt sich bereits, ob nun eine Phase des Abbaus der Ungleichheit begonnen hat. Der erhebliche Beschäftigungsaufbau seit 2010 werde sich aller Wahrscheinlichkeit nach sehr bald in den Zahlen über die Unterschicht niederschlagen, sagt DIW-Forscher Markus Grabka.

Zugenommen hat bis zum Jahr 2008 die Ungleichheit bei den Nettovermögen der Deutschen, das sich insgesamt auf mehr als zehn Billionen Euro beläuft. Die unteren 50 Prozent der Bevölkerung teilen sich mittlerweile ein Prozent der Besitztümer, während die oberen zehn Prozent mehr als die Hälfte des Nettovermögens aller Deutschen ihr Eigentum nennen. Neuere Zahlen zur Vermögensverteilung gibt es nicht. Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) vermutete gestern, dass sich auch die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung dank der hohen Beschäftigungslage seit 2009 verringert haben könnte.

Der Niedriglohnsektor weitet sich aus

Der Anteil ist zwischen 2008 und 2010 leicht gestiegen. Laut dem Statistischen Bundesamt arbeiteten 20,6 Prozent aller Beschäftigten im Jahr 2010 für einen Niedriglohn. Im Jahr 2006 lag der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglohn noch bei 18,7 Prozent. Niedriglohn liegt nach einer internationalen Definition vor, wenn der Verdienst eines Beschäftigten kleiner als zwei Drittel des mittleren Verdienstes aller Beschäftigten ist. Die so für 2010 bestimmte Niedriglohngrenze, unterhalb derer alle Verdienste als Niedriglöhne gelten, lag bei 10,36 Euro Bruttostundenverdienst.

Die meisten Beschäftigten, die 2010 einen Niedriglohn erhielten, waren jedoch atypisch beschäftigt — als Teilzeitbeschäftigte, befristet Beschäftigte, als Zeitarbeiter oder Mini-Jobber. Fast jeder zweite atypisch Beschäftigte erhielt 2010 einen Verdienst unter der Niedriglohngrenze. Einen besonders hohen Niedriglohnanteil wiesen die geringfügig Beschäftigten mit 84,3 Prozent auf. Bei Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen mit über 20 Stunden pro Woche lag der Anteil hingegen nur bei 10,8 Prozent. Schlechte Bezahlung ist demnach kein Phänomen der Vollzeitbeschäftigung.

Massenhaft Menschen können nicht von ihrem Einkommen leben

Nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit gibt es nur 70.000 bis 80.000 Singles in Deutschland, die Vollzeit arbeiten und aufstockend Hartz-IV-Leistungen benötigen. Die übrigen 1,2 Millionen Aufstocker arbeiten entweder nur in Teilzeit oder in Mini-Jobs, oder sie müssen noch andere Familienmitglieder von ihrem Einkommen mitversorgen.

Immer mehr Menschen benötigen Hartz-IV-Leistungen

Das Gegenteil ist der Fall. Von der positiven Lage am Arbeitsmarkt konnten auch die Hartz-IV-Empfänger profitieren. In den vergangenen fünf Jahren hat sich ihre Zahl fast halbiert. Aktuell liegt sie bei 4,35 Millionen Menschen. Darin sind die Aufstocker eingerechnet, die neben einer Beschäftigung ergänzende staatliche Leistungen erhalten. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl um 128.000 verringert. Die Kinderarmut ist im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen in Deutschland zwar relativ hoch. Doch dank der gesunkenen Zahl von Langzeitarbeitslosen ist auch der Anteil der Kinder, die von staatlicher Hilfe leben, in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Im Vergleich zu 2007 leben auch eine halbe Million Kinder weniger von Hartz-IV-Leistungen.

(mar / qua)
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