Debatte wegen Entwicklungen in der Türkei Gehört der Doppelpass abgeschafft?

Meinung | Düsseldorf · Als Reaktion auf die Entwicklung in der Türkei erwägen Unionspolitiker die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft. Dahinter steht auch die Frage, wie der Staat grundsätzlich mit Identitäten umgehen will. Ein Pro und Contra.

 Ein türkischer und ein deutscher Pass (Symbolfoto).

Ein türkischer und ein deutscher Pass (Symbolfoto).

Foto: dpa, dbo lof cul

Sie halten das für einen Witz? Mir ging es ähnlich: Der Chefredakteur einer Wochenzeitung aus Hamburg bekannte so öffentlich wie treuherzig, er habe bei der Europawahl 2014 zweimal seine Stimme abgegeben. Er habe gedacht, als Deutsch-Italiener sei ihm das gestattet. War es natürlich nicht, er bekam ein Bußgeld. Was er getan hat, widersprach dem ehernen demokratischen Gleichheitsprinzip, wonach jeder Wahlberechtigte pro Wahl nur eine Stimme hat: One man, one vote.

Zu fragen wäre, ob der urdemokratische Grundsatz nicht ebenfalls tangiert ist, wenn ein zugewanderter Doppelstaatler im April an der Abstimmung in der Türkei und im September an der Bundestagswahl teilnimmt. Anders als im eingangs geschilderten Fall wäre das nicht verboten. Ein Mensch mit mehreren Staatsangehörigkeiten ist ein privilegierter demokratischer Souverän. Ich nenne ihn einen Rosinenpicker.

Absurd wird es, wenn es sich um einen Souverän der Sonderklasse handelt, der nicht zwei, vielmehr drei oder gar vier Pässe besitzt und daraus (Wahl-)Rechte ableitet. Nichts gegen ein Willkommen all derjenigen, die dieses Land zu ihrem machen möchten und sich deshalb ohne Wenn und Aber für den deutschen Pass entscheiden. Aber wer glaubt, dass ein weitgehendes "Alles ist möglich in der Villa Kunterbunt" bei der Wahl von Staatsbürgerschaften der Integration dient, der hält womöglich auch den einen oder anderen morgenländischen Führer für einen lupenreinen Demokraten.

Die beiden politisch unterschiedlichen Publizisten Hugo Müller-Vogg und Jakob Augstein haben recht: Die doppelte Staatsbürgerschaft war mal ein progressives, gut gemeintes Projekt, aber sie war ein Irrtum. Warum sollte der Gesetzgeber diejenigen privilegieren, die sich aus zwei Welten jeweils das Beste herauspicken? Entscheidungen gehören zum Leben: bei der Berufswahl oder der Auswahl des Lebensmittelpunktes. Also ist es keine Zumutung, von einem Zuwanderer-Kind mit Pass der Eltern und zusätzlich deutschem Pass bei Eintritt der Volljährigkeit beziehungsweise Geschäftsfähigkeit eine reife Entscheidung für eine Staatsangehörigkeit zu verlangen.

Ausnahmen von dieser vernünftigen Regel sprechen nicht gegen Letztere. Das Festhalten an mehreren Staatsbürgerschaften ohne die Pflicht, sich bei Volljährigkeit für oder gegen den deutschen Pass zu entscheiden, oder gar Überlegungen von Integrationsbeauftragten, das Pässe-Allerlei noch großzügiger zu dulden, fördern politisch-staatsbürgerlichen Opportunismus; sie unterminieren Eingliederungsbemühungen und ziehen die politisch, rechtlich, kulturell bedeutende Staatsangehörigkeit herunter auf eine vergleichsweise läppische Tennisklub- oder Heimatvereinsmitgliedschaft.

Der Jurist Reinhold Michels (67) war viele Jahre bei der Rheinischen Post für die Innenpolitik zuständig.

Wer derzeit die Befürworter einer Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft hört, kann den Eindruck gewinnen, die öffentliche Ordnung der Bundesrepublik stehe vor dem Zusammenbruch, weil Haufen wildgewordener Deutschtürken hierzulande ihre Loyalitätskonflikte auslebten. So ist es aber nicht ganz — zu verzeichnen sind (zugegeben: unsägliche) Auftritte türkischer Minister, einige Handgreiflichkeiten und Demonstrationen.

Hinter der Agitation gegen den Doppelpass (der sich sogar der CDU-Parteitag hingegeben hat) steht das stillschweigende Versprechen, dann habe es ein Ende mit türkischer Innenpolitik in Deutschland. Das freilich ist entweder naiv oder hinterhältig — von den gut 2,7 Millionen türkischstämmigen Menschen in der Bundesrepublik haben nur einige Hunderttausend (die genaue Zahl ist nicht bekannt) beide Pässe. 1,5 Millionen besitzen lediglich den türkischen Pass. Erdogans Propaganda könnte munter weitergehen. Sein Hebel ist nicht der Doppelpass, sondern die historisch gewachsene Demografie der Bundesrepublik. Und die lässt sich nicht einfach abschaffen.

Mit den Zahlen ist der Wunsch, beim Staatsbürgerschaftsrecht so richtig aufzuräumen, also nicht zu erklären. Eher schon mit dem Gefühl, nun doch mal ein Exempel statuieren zu müssen an diesen frechen Türken. Solche Aufwallungen aus der Tiefe des Bauches sind allerdings selten ein guter Ratgeber. Dieser Fall ist keine Ausnahme.

Das entscheidende Argument für den Doppelpass ist grundsätzlich: Wir alle haben vielfältige Identitäten. Man kann evangelisch sein und zugleich Karnevalist, Münchner und BVB-Anhänger, neuerdings sogar Schützenkönig und (offen) schwul. Wir haben gelernt, mit Kontrasten zu leben. Es ist nicht einzusehen, warum das für die Staatsbürgerschaft nicht gelten sollte. Mit der Abschaffung der Optionspflicht hat es der Staat Hunderttausenden jungen Menschen erspart, sich für eine ihrer Identitäten zu entscheiden und die andere gleichsam symbolisch wegzuwerfen. Und ganz nebenbei: Soll man den Doppelpass dann nur für Türken abschaffen? Was ist mit Polen (Kaczynski!), Russen (Putin!), Arabern (Islam!)? All das sind ebenfalls Gruppen in sechsstelliger Stärke.

Am Ende steht die Frage: Was spricht denn gegen den Doppelpass? Da wird die Luft schnell dünn. Das alte Argument, "man" müsse sich eben entscheiden, taugt jedenfalls in Zeiten wachsender gesellschaftlicher Pluralität und globaler Vernetzung nicht mehr. Nein, wir können mehr als Entweder-oder. Zu glauben, Doppelstaatler überforderten die Gesellschaft, ignoriert unsere politische und wirtschaftliche Geschichte. Oder kürzer: Den Doppelpass abschaffen zu wollen, ist Politik von gestern.

Der Historiker Frank Vollmer (40) ist Redakteur in der Nachrichtenredaktion der Rheinischen Post.

(mc/fvo)
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