Altkanzler zu Flüchtlingspolitik Schröder bezeichnet unbegrenzten Zuzug als Fehler

Berlin · In der Flüchtlingskrise nimmt der Druck auf die Bundeskanzlerin zu. Unionsinterne Kritiker wollen mit einem Brief an Angela Merkel ihren Sorgen Nachdruck verleihen. Und auch Altkanzler Gerhard Schröder übt Kritik.

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Die unionsinternen Kritiker des Flüchtlingskurses von Merkel wollen zwar eine offene Konfrontation mit der Kanzlerin zunächst vermeiden. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur dpa in Berlin werden zahlreiche Mitglieder der Unionsfraktion aber einen Brief unterzeichnen, in dem sie ihre Sorgen über die Entwicklung in der Flüchtlingskrise zum Ausdruck bringen.

Der Inhalt soll nicht veröffentlicht werden. Das Schreiben dürfte Merkel Anfang kommender Woche erreichen. Er sei das Ergebnis gemeinsamer Überlegungen von Mitgliedern verschiedener Fraktions-Arbeitsgruppen, hieß es weiter. Auf eine Unterschriftenaktion für einen eigenen Antrag, mit dem die Bundesregierung von der Unionsfraktion aufgefordert werden sollte, Flüchtlinge bereits an der Grenze abzuweisen, dürfte demnach zunächst verzichtet werden.

Derweil geht Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) auf Distanz zur Flüchtlingspolitik Merkels. "Die Kapazitäten bei der Aufnahme, Versorgung und Integration von Flüchtlingen in Deutschland sind begrenzt. Alles andere ist eine Illusion", sagte der SPD-Politiker dem "Handelsblatt". Den unbegrenzten Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland bezeichnete er als Fehler. "Man muss den Eindruck gewinnen, als hätten nationale Grenzen keine Bedeutung mehr. Das ist gefährlich und das ist auch nicht richtig."

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Der Altkanzler wertete es als zentrales Versäumnis der CDU, dass sie ein Einwanderungsgesetz stets abgelehnt habe. "Da wurde schlicht die Realität ignoriert. Mit der Folge, dass jetzt Hunderttausende Flüchtlinge rechtlich in ein Asylverfahren gepresst werden, weil man keine Kontingente über ein Einwanderungsgesetz definiert hat", sagte Schröder. Er könne nicht nachvollziehen, dass Merkel trotz der erkennbaren Probleme durch die Vielzahl der Flüchtlinge erst in der nächsten Legislaturperiode ein Einwanderungsgesetz verhandeln wolle.

Der bayerische Finanzminister Markus Söder fordert sogar eine Bundestagsabstimmung über die deutsche Flüchtlingspolitik. Die Linie von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sei nicht demokratisch legitimiert, sagte der CSU-Politiker dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" laut Vorabbericht vom Freitag. "Wenn wir einige Bundeswehrsoldaten in einen Auslandseinsatz schicken, muss der Bundestag zustimmen. Wenn wir mehr als eine Million Menschen in unserem Land aufnehmen, dann sollte das Parlament ebenfalls die letzte Entscheidung haben", sagte Söder.

Der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) verteidigte dagegen die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Regierungsführung insgesamt . "Alles in allem kann ich ihr keine schlechten Noten geben", sagte Fischer in der Sendung "Im Dialog" des Senders Phoenix, die am Freitagabend ausgestrahlt wird. "Viele Kritiker machen es sich zu einfach." Die Deutschen könnten viel schlechter regiert werden. Wenn Merkel "morgen nicht mehr Kanzlerin wäre, wer sollte denn ihre Rolle in Europa übernehmen", fragte der Grünen-Politiker. Zwar könnten einige politische Beschlüsse der Regierungschefin anders akzentuiert werden. "Doch ich weiß um die Zwänge, in der eine Bundeskanzlerin ihre Entscheidungen trifft", zeigte Fischer Verständnis.

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Foto: ALESSANDRO BIANCHI

Nachdem ein Landrat aus Bayern am Donnerstagabend einen ganzen Bus voller Flüchtlinge vor dem Kanzleramt abgestellt hatte, weil er fehlende Unterbringungsmöglichkeiten in seiner Region beklagt, forderte auch Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil (SPD) einen Kurswechsel. Weil stellte sich in der "Welt" zwar hinter Merkels Entscheidung vom September, die Grenzen zu öffnen. Er bezeichnete sie aber als Zwischenlösung.

"Die Bundeskanzlerin wird sich im Laufe des Jahres korrigieren müssen", sagte er. Die Öffnung der Grenzen habe "fatalerweise dauerhaft zu einer Sonderrolle Deutschlands in Europa geführt". Die anderen Länder würden "mit Häme von der 'deutschen Einladung'" sprechen. Dies müsse die Bundesregierung beenden. Weil warnte, dass andernfalls Entscheidungen nötig seien, "die niemand will und die Europa schaden werden". Sollten die EU-Außengrenzen nicht gesichert werden, "erleben Binnengrenzen in Europa ein Comeback".

Merkel und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) machte er schwere Vorwürfe. "Die Menschen spüren, dass der Staat die Lage nicht im Griff hat". Weil forderte auch mehr Wohnungen für Flüchtlinge.

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Trotz des Winters kommen indes täglich weiter tausende Flüchtlinge in Deutschland an: Seit Jahresbeginn seien 51.395 neue Asylbewerber von den Behörden registriert worden, berichtet die "Bild"-Zeitung in ihrer Freitagsausgabe unter Berufung auf Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge.

Nach einem Bericht der "Frankfurter Rundschau" stiegen zuletzt auch die Zahlen der Asylbewerber aus Algerien und Marokko stark an. Demnach kamen allein im Dezember fast 2300 Algerier und 3000 Marokkaner nach Deutschland. Im August seien es weniger als 1500 Algerier und Marokkaner gewesen. Im ganzen Jahr 2014 seien weniger als 4000 gekommen.

In der Union mehren sich nun die Stimmen, denenzufolge Algerien und Marokko als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden sollten. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Stephan Mayer (CSU), sagte der "Bild"-Zeitung: "Wir müssen die Liste der sicheren Herkunftsstaaten ausweiten — vor allem um Marokko."

Innenminister de Maizière versicherte, dass der Zuzug spürbar reduziert werden solle. Er hob laut der Zeitung "Die Welt" dabei hervor: "Der Schutz der europäischen Außengrenzen hat zeitlich und inhaltlich Vorrang vor nationalen Lösungen." Auch Vize-Kanzler Sigmar Gabriel (SPD) bekräftigte demnach bei einem Forum in Berlin, eine Million Flüchtling pro Jahr seien dauerhaft nicht zu schaffen. Laut einer aktuellen Deutschlandtrend-Umfrage der ARD bezweifelt inzwischen mehr als jeder zweite Deutsche (51 Prozent), dass Deutschland die Flüchtlingskrise bewältigen kann.

Die Amtsärzte in Deutschland berichten unterdessen von Überlastung und langen Wartezeiten in vielen Gesundheitsämtern aufgrund der hohen Zahl von Flüchtlingen. "Seit Jahren wird der öffentliche Gesundheitsdienst kaputt gespart. Das rächt sich jetzt", beklagte Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, im Gespräch mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung".

Nach Angaben von Teichert kommen die Amtsärzte aufgrund der Verpflichtungen durch die hohe Zahl von Flüchtlingen kaum noch dazu, sonstige Aufgaben zu erfüllen. Die Wartezeiten in den Gesundheitsämtern würden immer länger und betrügen inzwischen oft mehrere Wochen. Gesundheitsämter sind beispielsweise zuständig für Impfungen bei Auslandsreisen oder für Einstellungsuntersuchungen. Derzeit sind zahlreiche Amtsärzte mit der Untersuchung von Asylbewerbern beschäftigt.

(das/AFP/dpa/KNA/rtr)
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