Hermann Gröhe im Interview "Der Pflegebeitrag bleibt bis 2022 stabil"

Düsseldorf · Der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) spricht im Interview mit unserer Redaktion über den Arznei-Versandhandel, die Bürgerversicherung und die letzte Phase der Pflegereform.

Das ist Hermann Gröhe
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Foto: dpa, Maurizio Gambarini

Welche Auswirkungen hat der Terroranschlag in Berlin auf die liberale Flüchtlingspolitik der Bundesregierung?

Gröhe Der Schock sitzt noch immer tief. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und Angehörigen. Und natürlich müssen wir allen Fragen nachgehen, die sich aus der Tat für unsere Sicherheit ergeben. Jetzt aber haben die Ermittlungen Vorrang. Und wir dürfen die, die vor dem Terror zu uns geflohen sind, nicht durch Ausgrenzung ein zweites Mal zu Opfern des Terrors machen. Zur Freiheit und Offenheit gehört auch der Mut, sich den Feinden der Freiheit nicht zu beugen.

Die Deutschen fühlen sich unsicherer. Was kann die Politik für mehr Sicherheit tun?

Gröhe Im Lichte der Ermittlungen wird sicherlich zu prüfen sein, wo wir besser werden müssen - etwa bei der Gefährderüberwachung oder dem Abschiebungsvollzug. So wie aber die AfD vorhandene Unsicherheiten ausbeuten will, zeigt dies vor allem, dass diese Partei nicht bürgerlich oder konservativ ist, sondern schlicht unanständig.

Müssen wir uns an Heerscharen von Polizisten, Poller und Blockadegitter auf Großveranstaltungen gewöhnen?

Gröhe Die Sicherheitsmaßnahmen wurden ja schon deutlich verschärft. Denken Sie nur an das Landesjubiläum in diesem Sommer. Dafür sind die allermeisten Menschen dankbar. Und ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, wenn so mancher Linke so tut, als gehen in unserem Land die Gefahren für die Freiheit von der Polizei aus. Das ist Blödsinn!

Sie sind CDU-Politiker und Anhänger der Marktwirtschaft. Warum wollen Sie mit dem Verbot des Versandhandels von rezeptpflichtigen Medikamenten Wettbewerb und günstigere Preise für Patienten ausschalten?

Gröhe Arzneimittelversorgung ist weit mehr als Arzneimittelverkauf! Es geht auch um Beratung - gut erreichbar, rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche. Unsere bewährte Apothekenversorgung wäre gefährdet, wenn es in Folge der EuGH-Entscheidung zu einem massiven Anstieg des Versandhandels mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln käme. In 21 Staaten in der EU gibt es im Übrigen ein solches Verbot - unbeanstandet vom EuGH.

Nicht alles, was Recht ist, muss richtig sein. Die deutschen Apotheken könnten selbst mehr Versandhandel betreiben.

Gröhe Wenn ausländische Versandapotheken Rabatte geben können, werden auch inländische Versandapotheken dieses Recht zu erstreiten versuchen. Dies würde die Lage für die Präsenz-Apotheken weiter verschärfen. Und der SPD-Vorschlag, Versandhandel mit Rabatten zuzulassen, aber mehr für die Beratung zu bezahlen, löst kein Problem, aber kostet die Versicherten zusätzliches Geld.

Im 21. Jahrhundert sprechen Patienten mit Ärzten über Skype, es werden sensible Produkte im Internet bestellt und künftig vielleicht sogar per Drohne geliefert. Bewahren Sie veraltete Strukturen?

Gröhe Wenn Ihre Tochter nachts um elf Uhr Magenschmerzen hat, berät Sie die Drohne nicht!

Ärzte oder Apotheker können angerufen und Medikamente innerhalb einer Stunde geliefert werden.

Gröhe Vielleicht bin ich Ihnen ja zu konservativ. Aber ich sehe keinen Grund, die bewährte persönliche Vor-Ort-Betreuung, auf die viele - nicht zuletzt ältere - Menschen vertrauen, infrage zu stellen.

Haben wir nicht schlicht zu viele Apotheken?

Gröhe In den vergangenen Jahren hat bereits ein moderater Rückgang von etwa einem Prozent der Apotheken pro Jahr eingesetzt. Wir haben einen spürbaren Preiswettbewerb zwischen den Apotheken bei rezeptfreien Arzneimitteln und vielen weiteren Produkten. Ortsnähe sollte es aber weiter geben. Man kann nicht am Reißbrett entwerfen, wie viele Apotheken das Land braucht.

Dafür brauchen Verbraucher doch kein Reißbrett. In vielen Stadtteilen hier gibt es im Umkreis von zwei Kilometern drei Apotheken.

Gröhe Das mag im städtischen Ballungsraum so sein - im ländlichen Raum sieht es schon anders aus. Und immer dann, wenn eine Apotheke geschlossen wird, schreien Gemeinderäte, Bürgermeister und übrigens auch Lokalredakteure auf.

Sie könnten das Mehrbesitzverbot für Apotheker lockern?

Gröhe Wir können alles infrage stellen. Oder wir können erhalten, was sich bewährt hat.

Und bei den Arzneimittelkostenausgaben liegen wir international vorne.

Gröhe Wir liegen bei der Arzneimittelversorgung international vorne! Neue Arzneimittel stehen bei uns allen Patientinnen und Patienten sehr schnell zur Verfügung und werden auch von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt. Das gibt es nicht zum Nulltarif. Und natürlich kostet uns der medizinische Fortschritt Geld. Nur ein Beispiel: Vor drei Jahren gab es kaum Heilungschancen für Hepatitis C. Damit rechtfertige ich nicht jeden Preis, den Hersteller und Kassen ausgehandelt haben. Aber es ist ein Segen, dass Menschen nicht mehr auf eine Transplantation warten müssen oder sterben, sondern heute geheilt werden können. Gleichzeitig nehmen wir die Ausgabenentwicklung bei Arzneimitteln sehr ernst und haben sie in den letzten Jahren auch deutlich gedämpft.

Ist die Apotheker-Lobby so hartnäckig, wie es immer geschrieben wird?

Gröhe Alle Beteiligten setzen sich vehement für ihre Interessen ein. Maßstab für die Politik kann aber nur das Allgemeinwohl sein.

Die SPD hat einen Wahlkampfschlager: die Bürgerversicherung.

Gröhe Außer dem schicken Titel kann ich nichts daran finden. Eine Zwangsverheiratung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung würde aufgrund des Vertrauensschutzes mehrere Jahrzehnte dauern, nützt uns also nichts bei den jetzt anstehenden Herausforderungen. Im Übrigen ist für Neidparolen in der Gesundheitspolitik kein Platz. Wie in nur wenigen Ländern weltweit steht bei uns Spitzenmedizin im Bedarfsfall unabhängig vom Geldbeutel zur Verfügung.

Was spricht denn gegen die Bürgerversicherung? Alle zahlen ein, es gibt ein hohes Versorgungsniveau. Und wer mehr will, schließt eine private Versicherung ab.

Gröhe Das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung hat sich bewährt. Denn der Systemwettbewerb hat immer wieder zu Verbesserungen für gesetzlich und privat Versicherte geführt.

Die Kosten explodieren trotzdem, und die Versicherten müssen immer höhere Zusatzbeiträge bezahlen. Sie gelten als der teuerste Gesundheitsminister in der Geschichte der Bundesrepublik.

Gröhe Lassen Sie mal die Kirche im Dorf! 2017 bleibt der Zusatzbeitrag in aller Regel stabil, 2016 gab es einen sehr moderaten Anstieg. Und niemand bestreitet, dass es richtig ist, die Hospiz- und Palliativversorgung, aber auch die Stationspflege und die Hygiene im Krankenhaus zu stärken sowie Anreize für Landärzte zu schaffen. Das ist im Interesse der Versicherten. Und mit verstärkten Anstrengungen in der Prävention, der Weiterentwicklung der Krankenhauslandschaft und einem Preismoratorium bei einer ganzen Reihe von Arzneimitteln sorgen wir auch für die nachhaltige Finanzierbarkeit.

Am 1. Januar startet die letzte Phase der Pflegereform. Haben wir dann Ruhe vor weiteren Veränderungen?

Gröhe Zum 1. Januar erhalten Demenzkranke endlich einen gleichberechtigten Zugang zu allen Leistungen der Pflegeversicherung. Und wir stärken mit umfangreichen Leistungsverbesserungen Pflegebedürftige, ihre Angehörigen und unsere Pflegekräfte. Das Thema Pflege bleibt aber auf der Tagesordnung - etwa mit der Reform der Berufsausbildung, Verbesserungen in der betrieblichen Gesundheitsförderung für Pflegekräfte oder durch die Aufgabe, durch mehr Rehabilitation Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder zu verzögern.

Es gibt immer wieder Klagen, dass Privatleute, die Anträge bei der Pflegeversicherung stellen, nicht das bekommen, was ihnen zusteht. Was unternehmen Sie dagegen?

Gröhe Die Pflegebegutachtung ist deutlich besser geworden. 2015 dauerte nur bei weniger als einem Prozent der Erstanträge die Begutachtung mehr als fünf Wochen. 2011 war dies noch in 28 Prozent der Fälle gegeben. Und ab dem 1. Januar gibt es ein neues Begutachtungssystem, und alle Experten bescheinigen uns, dass damit der Pflegebedarf besser erfasst werden kann. Zugleich gilt auch weiterhin: Wer sich ungerecht behandelt fühlt, sollte sein Widerspruchsrecht nutzen.

Die neue Pflegeversicherung kostet viel Geld. Die Versicherten müssen 0,5 Prozentpunkte mehr bezahlen. Bleibt es dabei?

Gröhe Wir gehen von stabilen Beiträgen bis 2022 aus und haben damit begonnen, einen Vorsorgefonds anzusparen, um die Beitragsentwicklung ab 2035 abzudämpfen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge vermehrt Pflegeleistungen benötigen. Wir verbessern die Leistungen um fünf Milliarden Euro jährlich. Und die dazu erforderliche Beitragserhöhung wird in der Bevölkerung akzeptiert. Ein starkes Zeichen der Solidarität - aber auch des Umstands, dass das Thema Pflege jeden von uns betrifft.

Michael Bröcker und Martin Kessler führten das Gespräch.

(RP)
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