Günter Schabowski Der Mann, der sich ins Geschichtsbuch stammelte

Berlin · Vor 26 Jahren verkündete er fast beiläufig die Öffnung der Mauer. Nun ist der Ex-SED-Funktionär Günter Schabowski im Alter von 86 Jahren gestorben.

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Günter Schabowski: Szenen seines Lebens

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Ein Satz wie ein Symbol. Stolpernd, taumelnd, stockend kommen die Worte daher: "Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort ... unverzüglich." Der Mann, der da spricht, ist Teil einer politischen Führungselite, die aus dem Tritt geraten ist. Getrieben von den Rufen nach Freiheit auf den Straßen, seit Wochen ohne klare Orientierung. Der da spricht, heißt Günter Schabowski, ist zu diesem Zeitpunkt 60 Jahre alt, Funktionär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), Mitglied des Politbüros in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, und was er sich zusammenstottert an jenem 9. November vor beinahe 26 Jahren, auf der Pressekonferenz in Ost-Berlin auf die Frage, ab wann denn die soeben vorgestellte neue DDR-Reiseverordnung gelte, nach der künftig Reisen in den Westen erlaubt sein sollten, wird zum Sargnagel für den Arbeiter- und Bauernstaat. Stunden später tanzen die Menschen auf der Berliner Mauer.

So ungelenk hat selten einer Weltgeschichte geschrieben.

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Helmut Kohl – Stationen seines Weges

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Foto: AP

Dass die Mauer in jener Nacht fiel, ist nicht das Verdienst von Günter Schabowski, der jetzt schwer krank in einem Berliner Pflegeheim im Alter von 86 Jahren gestorben ist. Es handelte sich eher um einen Unfall der Historie, um ein Missverständnis - Folge des Kommunikationschaos, das zuletzt innerhalb der DDR-Führungsriege herrschte.

Massenhaft türmten die Bürger der DDR über die angrenzenden Bruderländer des bröckelnden Warschauer Paktes in den freien Westen, Erich Honecker war Wochen zuvor zwar von Egon Krenz an der Spitze des Politbüros entmachtet worden, doch Letzterer begnügte sich damit, tapfer gegen die permanente Überforderung, die ihm das neue Amt bescherte, anzulächeln. Allen war klar: Die DDR ist pleite, und so fügte man sich mit einer letzten Idee ins Unvermeidliche: Ostdeutsche sollten unter bestimmten Umständen ausreisen dürfen, Westdeutsche dafür bezahlen.

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Originell war das nicht. Und die Präsentation funktionierte auch nicht. Mit der Wendung: "Nach meiner Kenntnis ..." beginnen viele Ahnungslose einen Satz. Auch Schabowski, der nicht wusste, wie unfertig der Entwurf tatsächlich war. Der Rest ist Geschichte. Schabowski hat allerdings nie widersprochen, wenn sein Anteil an dem, was folgte, heldenhafter dargestellt wurde, als er in Wahrheit war. Nur einmal räumte er ein, dass ihm in jenem Moment der Gedanke durch den Kopf geschossen sei: "Hoffentlich wissen die Russen davon."

Schabowski, im vorpommerschen Anklam als Sohn eines Klempners geboren, hatte eine steile SED-Karriere hinter sich: 1978 übernahm er die Leitung der Parteizeitung "Neues Deutschland". 1984 gelang dem Absolventen der Moskauer KP-Parteihochschule der Aufstieg ins SED-Politbüro, das höchste DDR-Machtgremium. 1985 wurde er Chef der Berliner SED-Bezirksleitung.

Später, als ihm neben dem letzten DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz vor dem Berliner Landgericht der Prozess gemacht wurde, räumte Schabowski ein, nichts könne rechtfertigen, dass auch nur ein einziger Flüchtling, "der uns den Rücken kehren wollte, dafür mit dem Leben bezahlen musste". Damit ging er im Politbüro-Prozess auf Distanz zu Krenz. Er fand es "einfach peinlich", dass bei seinem einstigen Parteichef kritische Einsichten fehlten. Im Gegensatz zu Krenz räumte er eine Mitschuld dafür ein, dass Menschen an der innerdeutschen Grenze bei Fluchtversuchen erschossen wurden. Schabowski wurde 1997 wegen Totschlags zu drei Jahren Haft verurteilt. Die Richter befanden, dass auch er zu den Verantwortlichen des menschenverachtenden Grenzregimes zwischen Ost und West gehörte.

Bundespräsident Joachim Gauck würdigte dennoch gestern auch in einem Brief an Schabowskis Witwe die Bereitschaft des Verstorbenen zur Selbstkritik: "Er war wohl das einzige Mitglied des SED-Führungszirkels, das zu radikaler Umkehr und auch zur Anerkennung eigener Schuld bereit und fähig war." Seine Erinnerungen an das Ex-Politbüromitglied seien zwiespältig, schrieb Gauck. "Lange Jahrzehnte war er eine Führungsfigur im Kreis meiner Unterdrücker", betonte der frühere DDR-Bürgerrechtler. "Später lernte ich einen Mann kennen, der über Fehler, Abgründe und - wie er selbst sagte - ,Verblendungszusammenhänge' nachdachte."

(lsa/RP)
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