Günther Oettinger im Interview "Asylrechtsänderung darf kein Tabu sein"

Berlin · EU-Kommissar Günther Oettinger stellt im Interview mit unserer Redaktion das deutsche Asylrecht grundsätzlich in Frage. Er hält die deutschen Standards im Asylverfahren und bei den Leistungen für zu hoch.

 EU-Kommissar Günther Oettinger sprach mit unserer Redaktion.

EU-Kommissar Günther Oettinger sprach mit unserer Redaktion.

Foto: dpa, soe pzi htf

Wie besorgt sind andere EU-Länder darüber, dass Deutschland durch die pauschale Anerkennung Zehntausender Syrer die Sicherheitslage in ganz Europa gefährdet?

Oettinger Zunächst einmal gibt es in allen EU-Ländern großen Respekt vor der Solidarität, die Deutschland gegenüber Kriegsflüchtlingen zeigt und wie es die damit verbundenen finanziellen Aufgaben meistert. Aber es gibt in Europa ganz klar auch eine gemeinsame Sorge, wie wir durch eine kluge Politik die Terrorgefahr in Europa nicht steigern und trotzdem die Hilfe für bedrängte Menschen leisten können.

Bedingt durch die deutsche Politik halten sich Zehntausende unregistriert auf dem Boden der EU auf. Damit ist die Sicherheitslage doch überall gefährdet…

Oettinger Die pauschale Anerkennung von Syrern in Deutschland war eine zwangsläufige Folge ihrer enorm hohen Zahl. Das BAMF war anfangs nur in der Lage, 50.000 Asylanträge im Jahr zu bearbeiten, nicht aber das Zwanzigfache. Deshalb blieb vorübergehend keine andere Möglichkeit, als die vielen Syrer pauschal anzuerkennen. Jetzt aber wird das BAMF-Personal verdoppelt. Das muss dazu führen, dass wieder im Einzelfall eines jeden Antragstellers geprüft wird.

Wie schaffen wir es, dass uns die anderen EU-Länder mehr Flüchtlinge abnehmen?

Oettinger Es gab einen Mehrheitsbeschluss der EU-Staaten, 160.000 Flüchtlinge auf die Länder nach einer festgelegten Quote zu verteilen. Dieser Beschluss wurde nicht einstimmig gefällt, sondern Rumänien, die Slowakei, Ungarn und Tschechien haben dagegen gestimmt. Es gibt jetzt sogar eine Reihe von Mitgliedstaaten, die gegen den Beschluss vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Allein das zeigt, wie mühevoll die Verteilung ist. Eigentlich müssten wir ja an die 160.000 eine Null dranhängen. Eigentlich müssten 1,6 Millionen Flüchtlinge auf alle EU-Staaten verteilt werden, wenn wir der Realität in diesem Jahr gerecht werden wollen. Das wird nicht möglich sein.

Von einer Verteilquote in der EU müssen wir Deutsche uns also verabschieden?

Oettinger Einer Verteilquote in der EU, die in einer höheren Dimension läge als der vorliegende Beschluss über die Verteilung von 160.000, gebe ich keine Chance. Polen etwa wird einer Verteilquote nicht mehr zustimmen, auch nicht, wenn es wieder eine andere Regierung hätte.

Was machen wir, wenn die Verteilquote in der EU nicht durchsetzbar ist?

Oettinger Der richtige Weg ist, menschenwürdige Unterkünfte in den Flüchtlingslagern und Herkunftsländern aus europäischen Kassen zu finanzieren und darauf aufbauend, Kontingente festzulegen, die kontrolliert nach Europa kommen. Diese Kontingente müssen natürlich erheblich geringer sein als die Zahl der Flüchtlinge, die 2015 nach Europa gekommen sind.

Warum können wir die Aufnahme von Flüchtlingen nicht erzwingen, indem wir Ländern wie Polen Mittel aus den EU-Töpfen verweigern?

Oettinger Ich halte das für keine Lösung. Man sollte nicht mit EU-Haushaltsmitteln versuchen Politik zu machen. Wir Deutsche sind zwar EU-Nettozahler, das heißt, wir zahlen mehr ein als wir herausbekommen. Aber von den Strukturprogrammen, die nach Slowenien, Polen oder andere EU-Länder gehen, kommen 80 Prozent zu uns zurück in Form von Aufträgen für die Wirtschaft. Hinzu kommt: Die Aufnahme von Flüchtlingen durch Deutschland und Österreich wurde nicht mit den anderen EU-Staaten abgestimmt. Die anderen Länder sagen: Wir wurden nicht gefragt. Also wollen wir auch nicht im Nachhinein genötigt werden, dies zu unterstützen.

Nun ja, die Flüchtlinge sind nun mal in Massen über die Türkei nach Griechenland und dann ungehindert Richtung Norden geströmt, da blieb Deutschland keine Wahl. Sonst hätte es Gewaltausbrüche und humanitäre Katastrophen gegeben…

Oettinger Schon klar. Aber in vielen Mitgliedsstaaten stecken den Regierungen Rechtspopulisten im Nacken. Die Gefahr der Abwahl der jetzigen Regierungen wegen dieses Themas ist groß.

Warum ist Deutschland so ein Magnet für Flüchtlinge, wie Sie es genannt haben?

Oettinger Wir müssen uns fragen, warum in diesem enormen Ausmaß Flüchtlinge in Deutschland Asyl beantragen. Das hat zuallererst mit unserem ausgeprägten Asylverfahrensrecht und Asylleistungsrecht zu tun. Das fängt beim Recht an, einen Rechtsanwalt seiner Wahl zu bestimmen, es geht über die viel zu lange Asylverfahrensdauer bis hin zu den guten Asylbewerber-Leistungen. Eine Harmonisierung des Asylrechts aller EU-Staaten entlang unserer europäischen Werte würde die Magnetfunktion Deutschlands verringern.

Für die SPD ist eine Änderung des Grundrechts auf Asyl eine rote Linie, die sie niemals überschreiten würde.

Oettinger Das mag sein. Aber ich behaupte, das Thema wird bleiben. Ich erinnere mich gut an die 90-er Jahre. Damals hatte es auch vier Jahre gedauert, bis man den Asylrechts-Artikel 16 im Grundgesetz ergänzt hat. Die Debatte über eine Änderung des Asyl-Grundrechts in Deutschland darf kein Tabu sein.

Warum wird diese Debatte in Deutschland so verschämt geführt?

Oettinger Der Versuch, Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind, im Nachhinein über eine Quote auf andere EU-Länder zu verteilen, ist ja im Grunde schon der Versuch, die asylrechtliche Praxis zu harmonisieren. Die Debatte über eine Verteilquote wäre entbehrlich, wenn wir das Asylrecht schon EU-weit angeglichen hätten.

Warum legt die EU-Kommission dazu keinen eigenen Vorschlag vor?

Oettinger Die EU-Kommission hat bereits weitgehende eigene Vorschläge zur Sicherung der EU-Außengrenzen und zur Verteilung der Flüchtlinge vorgelegt. Ich halte auch einen Vorschlag der EU-Kommission zur Harmonisierung des Asylrechts für denkbar. Aber letztendlich handeln wir im Interesse der Mitgliedstaaten. Deshalb handeln wir zu allererst dann, wenn uns die Staaten auffordern, einen solchen Vorschlag vorzulegen.

Wie müsste ein solches gemeinsames Asylrecht aussehen?

Oettinger Es gibt internationale Verpflichtungen, die einen Rahmen bieten, etwa die Genfer Flüchtlingskonvention. Man sollte den Standard europäisch beschließen, der der Menschenwürde, dem Rechtsstaatsprinzip und den internationalen Vereinbarungen entspricht. Aber On Top auf dieses einheitliche europäische Niveau sollte man Asylsuchenden keine nationalen Ergänzungen oder Leistungen mehr anbieten.

Was bietet Deutschland denn On Top an bisher?

Oettinger Deutschland gewährt etwa die freie Anwaltswahl. Das sollten wir für Asylsuchende künftig ausschließen. Auch sollte Deutschland die vielen gerichtlichen Instanzen, Berufung und Revision, beschleunigen oder verringern. Ein Vergleich der Asylbewerber-Leistungen auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenshaltungskosten zeigt, dass die materiellen Leistungen bei uns höher sind als in vielen anderen EU-Ländern. Angezeigt wäre ein Schlüssel, dass in der EU entlang der Lebenshaltungskosten nur noch ein einziger Standard für die Asylbewerberleistungen gilt.

Ihrer Parteivorsitzenden Angela Merkel wird oft vorgeworfen, sie habe mit ihrer Entscheidung Anfang September, Zehntausende Flüchtlinge aufzunehmen, das Dublin-Abkommen der EU gebrochen. Haben die Kritiker Recht?

Oettinger Ich kritisiere die Position der Kanzlerin sowohl Anfang September als auch heute nicht. Auch EU-Kommissionspräsident Juncker unterstützt Frau Merkel. Natürlich ist ein Selfie mit der Kanzlerin weltweit zu sehen. Aber die Menschen wären trotzdem gekommen. Sie waren ja schon vor dem September auf dem Wege. Die Zustände in den Kriegsgebieten und den Flüchtlingslagern hatten sich dramatisch verschlechtert. Das hat mit der Kanzlerin und ihrer Willkommenskultur nichts zu tun.

(mar)
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