Aufregung im Bundestag Um ein Haar hätten Union und SPD ihre Mehrheit verloren

Mitten in der Sitzungsroutine des Bundestages schrecken die Abgeordneten bei ihren Terminen auf und eilen in den Plenarsaal. Bei einem Gesetzentwurf der Grünen wurde am Donnerstag überraschend ein Hammelsprung erforderlich.

 Ein Blick in den Deutschen Bundestag. (Archiv)

Ein Blick in den Deutschen Bundestag. (Archiv)

Foto: ap, MS

Sitzungspräsidentin Claudia Roth von den Grünen will eigentlich an diesem Donnerstag nur die Mehrheitsverhältnisse zu einer parlamentarischen Petitesse feststellen. Soll der Gesundheitsausschuss federführend über die Gleichstellung schwuler und lesbischer Paare bei der Kostenübernahme künstlicher Befruchtung beraten oder der Familienausschuss?

Eigentlich scheint die Mehrheit klar: Union und SPD wollen den Gesetzentwurf der Grünen in den Gesundheitsausschuss bringen, die Opposition in den Familienausschuss. Doch die theoretische Mehrheit hat in diesem Augenblick mit der realen Mehrheit im Plenarsaal wenig zu tun. Viele Abgeordnete sitzen in den Reihen von AfD, FDP, Grünen und Linken, nur relativ wenige bei Union und SPD.

Gleichwohl stellt Roth fest, dass der Antrag der Koalition gegen die Stimmen von Linken, Grünen, FDP und AfD angenommen sei. So ist es üblich. Es ist ohnehin immer ein Kommen und Gehen, da verlässt man sich auf die Mehrheitsverhältnisse, wie sie bekannt sind. Doch hier scheint das Auseinanderklaffen doch zu eklatant zu sein. Die AfD bezweifelt, dass Roth die Entscheidung des Plenums richtig erfasst hat. Offenkundig hatte Roth selbst auch nicht das sicherste Gefühl. Sie lässt gegen Protestrufe aus der Koalition die Abstimmung wiederholen. Für die manche Zuschauer ist das Ergebnis wieder eindeutig: Linke, Grüne, FDP und AfD bringen mehr Stimmen zusammen als die so genannte große Koalition, die nach den Bundestagswahlen schon recht klein geworden ist und deren Präsenz im Plenum in diesem Augenblick eher mickrig erscheint.

Das Sitzungspräsidium diskutiert. "Verwirrend" sei das aus dieser Perspektive. Die Politikerreihen bei der Opposition gehen eindeutig weiter hinauf, die der Koalition mehr in die Breite. "Wir sind uns nicht einig", lautet die diplomatische Umschreibung von Roth über die Wahrnehmung der aktuellen Mehrheitsverhältnisse im Plenarsaal. Und deshalb ordnet die Bundestagsvizepräsidentin einen so genannten "Hammelsprung" an. Der ist so benannt nach einem Gemälde über dem Eingang zum Plenarsaal des alten Reichstagsgebäudes und besagt, dass nun alle Abgeordneten den Plenarsaal verlassen und dann durch drei Türen wieder reinkommen. Durch eine für "Ja" durch eine für "Nein" oder durch eine für "Enthaltung". Damit kann zweifelsfrei die Zahl der Stimmen gezählt werden.

Soweit die Theorie. Doch schon die immer dringender werdenden Appelle der Sitzungspräsidentin, doch nun bitte den Saal zu verlassen, weisen darauf hin, dass die praktische Ausführung zumeist anders verläuft. Während die Oppositionsabgeordneten zügig in die Lobby gehen und sich bereithalten, die aktuellen Mehrheitsverhältnisse klarzumachen, sind Abgeordnete von Union und SPD noch mit intensiven Gesprächen befasst.

Die Aufforderungen von Roth scheinen sie nicht wahrzunehmen. Das Manöver ist klar: Spiel auf Zeit. Denn im Hintergrund wird nun hektisch telefoniert. Die parlamentarischen Geschäftsführungen von Union und SPD versuchen, die Abstimmungsniederlage zu verhindern. Auch Roth bekommt einen weiteren Hinweis. Gerade tage doch parallel auch der Ältestenrat des Bundestages, und auch deren Mitglieder würden gerne am Hammelsprung teilnehmen.

Nun schellen die Abstimmungsklingeln auf den Fluren aller Bürogebäude des Bundestages. Überall lassen die Abgeordneten stehen und liegen, womit sie sich gerade beschäftigen. Konferenzen, Sitzungen, Gespräche werden unterbrochen. Und wo eben noch gähnende Leere vor dem Plenarsaal herrschte, wird es binnen Minuten immer enger. Um 14:07 Uhr hat Roth zum "Hammelsprung" aufgerufen, um 14:29 Uhr ist er endlich gelaufen: Die Koalition bringt 322 Politiker auf die Beine, die Opposition 251. Gerade noch mal gut gegangen für die klein gewordene große Koalition. Aber sie hat erneut erlebt, auf welch dünnem Eis sie arbeitet.

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