Analyse zu Hartz IV Aufstiegschance versus Abstiegsangst

Berlin · Spitzenpolitiker wie Grünen-Chef Habeck oder die SPD-Vorsitzende Nahles wollen das Hartz-IV-System überwinden. Doch die Debatte über die Abschaffung von Sanktionen oder ein bedingungsloses Grundeinkommen ist gefährlich.

 Empfangsschalter der Arbeitsagentur in Köln (Archiv).

Empfangsschalter der Arbeitsagentur in Köln (Archiv).

Foto: dpa/Oliver Berg

Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), musste sich Luft machen. Manche Kritik von SPD-Chefin Andrea Nahles, dem Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck und anderen am Umgang der Job-Center mit Hartz-IV-Beziehern sei „unter der Gürtellinie“ gewesen, sagte Scheele vergangene Woche. Die Fallmanager leisteten gute Arbeit. „Drangsalieren, das findet in den Job-Centern nicht statt“, stellte Scheele klar, der selbst SPD-Mitglied ist.

  Nun zielten Nahles und Habeck nicht auf die Job-Center, sondern gleich auf das Hartz-IV-System insgesamt, das „auf Demütigung ausgerichtet“ sei, wie Habeck es formulierte. Beide Parteichefs wollen Hartz IV überwinden und durch eine großzügigere soziale Sicherung ohne Zwang zur Gegenleistung ersetzen – sei es durch Habecks „Garantiesicherung“ oder Nahles´ „Bürgergeld“. Für Scheele ist das nicht weniger, sondern freilich noch alarmierender: Die Politiker führen nämlich eine Debatte an, die die überwiegend erfolgreiche Arbeit der Bundesagentur und der Job-Center nicht nur delegitimiert, sondern den Fokus der Politik künftig grundsätzlich anders ausrichten will. Nicht mehr die Wiedereingliederung in Arbeit soll Hauptaufgabe von Hartz IV und der Job-Center sein, sondern nur noch die soziale Absicherung.

   Grünen-Chef Habeck will das bisherige Arbeitslosengeld II zur einer Garantiesicherung umbauen. Es soll keine Sanktionen und Verpflichtungen zur Arbeitsaufnahme mehr geben, sondern nur noch Belohnungen, wenn Menschen sich weiterbilden und freiwillig Arbeit aufnehmen. Der Shooting-Star der Politik begründet seinen Denkanstoß wie andere Hartz-IV-Kritiker mit der „Abstiegsangst“ breiter Schichten. Im Zuge der Digitalisierung, so lautet ihr Narrativ, befürchteten Millionen Menschen den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Obwohl sie bereits Jahrzehnte gearbeitet haben, könnten sie schon nach zwölf oder 18 Monaten des Bezugs von Arbeitslosengeld I auf Hartz IV abrutschen, eben nach ganz unten.

 Das zieht, auch weil Angst nun mal zu den stärksten menschlichen Empfindungen zählt. Aber wie berechtigt ist es, diese Erzählung in den Köpfen zu verfestigen? Gab es Abstiegsängste nicht schon immer oder stärker? Sind die Jobchancen heute nicht viel größer als Anfang der 1980-er oder 2000-er Jahre? Müssen sich breite Schichten objektiv vor der Zukunft fürchten, weil Arbeitsabläufe gerade massenweise digitalisiert werden? Warum sprechen wir nicht über Aufstiegschancen statt über Abstiegsangst? Und wer redet eigentlich über die faire Behandlung  der großen Mehrheit der Steuer- und Beitragszahler, die das Sozialsystem tragen?

  Friedrich Merz tat es instinktsicher kurz vor dem heutigen CDU-Wahlparteitag und hat damit möglicherweise ins Schwarze getroffen. Bekäme die Bewegung für ein bedingungsloses Grundeinkommen weiter Wind unter die Segel, könnte das tatsächlich Abstiegsängste schüren – bei all denjenigen, die sich als Leistungsträger sehen und die befürchten, das Ganze über massive Steuererhöhungen bezahlen zu müssen. Diese Leute stört, dass die Erfolge am Arbeitsmarkt so kleingeredet werden: Seit 2005 hat sich die Arbeitslosenzahl halbiert, und im längsten Aufschwung der Nachkriegszeit geht jetzt auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Hartz IV deutlich zurück. Die Grundeinkommensdebatte wirkt gerade deshalb wie eine reine Luxusdebatte. Es ist zu erwarten, dass sie schwächer werden wird, sobald die konjunkturelle Schwächephase im kommenden Jahr eintritt.

  Im ersten Schritt konzentriert sie sich darauf, ob Hartz-IV-Sanktionen für Empfänger abgeschafft werden sollen, die sich nicht an die Regeln halten. Am Donnerstag startete der Verein „sanktionsfrei“ mit viel PR-Brimborium ein kleines wissenschaftliches Experiment: 250 Hartz-IV-Empfängern wird drei Jahre lang garantiert, dass Strafen, die das Job-Center gegen sie bei Verstößen verhängen könnte, finanziell aus Spenden ausgeglichen werden. Wuppertaler Forscher sollen untersuchen, wie das Leben ohne Sanktionen auf Arbeitsbereitschaft und Befindlichkeit wirken.

 Nun gibt es bereits zahlreiche Studien des Nürnberger Instituts für Berufs- und Arbeitsmarktforschung (IAB), das zur BA gehört und dem die Hartz-IV-Kritiker deshalb nicht trauen. Das IAB ist aber eine Instanz in der Arbeitsmarktforschung. Nach seinem Befund erhöhen die Sanktionen die Wahrscheinlichkeit, dass Hartz-IV-Bezieher  wieder in Arbeit kommen. Wichtig seien Regeln wie etwa die regelmäßige Präsenzpflicht beim  Job-Center, damit diese Kontakt zum Hartz-IV-Bezieher behielten. Nur die härtesten Strafe für unter 25-Jährige, denen die Unterstützung vorübergehend komplett gestrichen werden kann, sei in Einzelfällen kontraproduktiv, wenn sie etwa zu Obdachlosigkeit führe. Die besonderen Strafen für unter 25-Jährige gehören daher abgeschafft.

  Forscher wie Alexander Spermann von der Uni Köln finden die Debatte zumindest wichtig, um aus allzu ausgetretenen Pfaden der Arbeitsmarktpolitik herauszukommen. Tatsächlich werde die Digitalisierung Millionen Jobs kosten, aber auch Millionen neue Jobs schaffen, meint Spermann. Die Arbeitslosenversicherung müsse viel mehr Weiterbildungsangebote machen, nicht nur für Alg-I-Empfänger, sondern mindestens auch für Aufstocker in Hartz IV. „Es geht letztlich nicht um die Abschaffung von Hartz IV, sondern um dessen intelligente Weiterentwicklung“, sagt Spermann.

    Mehr Sicherheit würden auch andere Vorschläge versprechen. So könnten sich Arbeitnehmer individuell durch Zuzahlungen länger in der Arbeitslosenversicherung absichern. Oder die Versicherung würde einen Schadensfreiheitsrabatt einführen. Die, die noch nie arbeitslos geworden sind, könnten dann länger das reguläre Arbeitslosengeld I bekommen als diejenigen, die es häufiger beziehen müssen.

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