Bundesverfassungsgericht Hartz-IV-Sätze sind verfassungswidrig

Karlsruhe/Dortmund (RPO). Die "Hartz-IV"-Regelsätze für Erwachsene und Kinder sind verfassungswidrig und müssen neu berechnet werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Dienstag entschieden. Die Leistungen seien nicht korrekt ermittelt worden. Die gesetzlichen Vorschriften genügten daher nicht dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

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Foto: APN

Der Gesetzgeber müsse bis 31. Dezember 2010 eine Neuregelung treffen, forderte das Gericht. Bis dahin blieben die verfassungswidrigen Vorschriften weiter anwendbar. Das Bundesverfassungsgericht sah sich nicht dazu befugt, selbst bestimmte Sätze festzusetzen und begründete dies mit dem "Gestaltungsspielraum" des Gesetzgebers. Dieser müsse die Leistungen aber "realitätsgerecht" ermitteln. Rückwirkend müssten die Sätze nicht neu festgesetzt werden.

Das Gericht betonte, dass die zu Beginn der Arbeitsmarktreform "Hartz IV" im Jahr 2005 geltenden und auch die heutigen Regelleistungen für Alleinstehende, erwachsene Partner und Kinder "nicht offensichtlich unzureichend" seien. Der Gesetzgeber sei daher nicht unmittelbar verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen.

Zumindest bei schulpflichtigen Kindern dürfte dennoch eine Erhöhung des Satzes oder auch die verstärkte Gewährung von Sachleistungen wahrscheinlich sein. Denn der Erste Senat rügte, dass bei der Bemessung "jegliche Ermittlungen zum spezifischen Bedarf eines Kindes unterlassen" worden seien. "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen", heißt es im Urteil. Der vorgenommene Abschlag von ursprünglich 40 Prozent gegenüber dem Regelsatz für alleinstehende Erwachsene sei nicht fundiert, sondern "freihändig" festgelegt worden.

Vor allem die notwendigen Aufwendungen für Schulbücher, Schulhefte oder Taschenrechner seien unberücksichtigt geblieben, die zum existenziellen Bedarf eines Kindes gehörten. Ohne Deckung dieser Kosten drohe hilfebedürftigen Kindern der "Ausschluss von Lebenschancen". Die inzwischen gewährte jährliche Einmalleistung von 100 Euro für den schulischen Bedarf sei "offensichtlich freihändig geschätzt".

Der Regelsatz für Alleinstehende von ursprünglich 345 Euro im Monat (derzeit 359 Euro) sei nicht in verfassungsgemäßer Weise ermittelt worden. Der Satz wurde bislang aus der sogenannten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe abgeleitet. Dabei wurden die Verbrauchsausgaben der untersten 20 Prozent der nach ihrem Einkommen geschichteten Haushalte zugrunde gelegt.

Die Karlsruher Richter billigten dieses Statistikmodell zwar grundsätzlich. Sie rügten aber, dass bei einzelnen Ausgabepositionen prozentuale Abschläge für Güter wie etwa Pelze, Maßanzüge oder Segelflugzeuge vorgenommen wurden, ohne dass geklärt wurde, ob die Vergleichsgruppe des unteren Fünftels überhaupt solche Ausgaben getätigt hat. Diese strukturellen Berechnungsmängel wirkten sich auch auf die Leistungen für erwachsene Partner und Kinder aus.

Der Erste Senat entschied über Vorlagen des Bundessozialgerichts und des hessischen Landessozialgerichts. In den Ausgangsverfahren hatten Familien mit "Hartz IV" aus Dortmund, dem bayerischen Landkreis Lindau am Bodensee und dem Werra-Meißner-Kreis in Hessen geklagt. Kläger Thomas Kallay sagte, auch nach dem Urteil bestehe "kein Grund zur Freude, weil Millionen Menschen in Deutschland - auch Kinder - durch Hartz IV ruiniert und kaputtgemacht wurden".

(AZ: 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - Urteil vom 9. Februar 2010)

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