Helmut Schmidt Der Kanzler der Vernunft

Hamburg · Er wollte Städtebauer werden, das friedliche Miteinander der Menschen organisieren, planen und gestalten. Das war der Kindheitstraum von Helmut Schmidt. In seinen politischen Ämtern verwirklichte er ihn im großen Maßstab. Eine Würdigung.

Helmut Schmidt - Seine Zitate und Sprüche
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Die Sprüche von "Schmidt-Schnauze"

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Helmut Schmidt kam dem Politiker, wie ihn sich Max Weber in seiner Theorie gewünscht hatte, recht nahe. Leidenschaft, Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein zeichnen diesen Ideal-Typus aus. Zuschreibungen, die Weggefährten in Dutzenden Portraits, Kommentaren und Briefen über Helmut Schmidt immer wieder verwandten, um Schmidts Handeln zu beschreiben.

Politiker müssten für die Folgen ihres Handelns aufkommen, auch für die ungewollten, lautete Helmut Schmidts Credo. Der Politiker sei nur der Vernunft, seiner eigenen Urteilskraft, seinem Gewissen verantwortlich. Und eben nicht Mehrheitsmeinungen oder Parteiprogrammen. Je mehr sich Politiker von einer fixierten Ideologie leiten ließen, vom Machtinteresse der eigenen Partei, umso größer sei die Gefahr von Irrtümern und Fehlschlägen, sagte Schmidt. Seine Erfahrung als junger Wehrmachts-Offizier, der die Abgründe des Krieges und eines verbrecherischen Nazi-Regimes erlebte, spiegeln sich hier wider. Die Befreiung vom Nationalsozialismus verstand er als Auftrag.

Mit diesem Kompass arbeitete sich der Lehrersohn aus Hamburg an die Spitze der Bundesregierung und wurde zu einem der beliebtesten und angesehensten deutschen Politiker aller Zeiten. Geradlinig, selbstbewusst, unkonventionell. Als Innensenator in seiner Heimatstadt kämpfte Schmidt mit preußischer Disziplin und bürokratischer Flexibilität gegen die Sturmflut. Als Finanz- und Wirtschaftsminister brachte er die weltwirtschaftliche Perspektive in die engstirnige deutsche Debatte. Als "Weltökonom" wurde er bespöttelt, doch sah er einfach nur früher klarer und weiter. Er warnte vor "Raubtierkapitalismus", bevor Banken mit dubiosen Kreditpapieren Milliarden verzockten.

Stationen eines Lebens
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Stationen eines Lebens

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Als Verteidigungsminister verhalf er den "Staatsbürgern in Uniform" zu einer universitären Ausbildung. Pflichtbewusstsein, auch Nationalstolz, waren Kategorien des Sozialdemokraten, auch wenn er seine Partei damit irritierte. Viele Jahre später erklärte Schmidts Intimfeind Horst Ehmke, dass es nie einen besseren Verteidigungsminister gegeben habe als Helmut Schmidt.

Als Bundeskanzler fehlte ihm das Historische, jener Mantel-Moment der Geschichte, wie ihn Helmut Kohl in der Wiedervereinigung und Willy Brandt in der Ostpolitik erfuhr. In Schmidts achtjähriger Amtszeit mussten vor allem Krisen gemanagt werden, wie man heute sagen würde. Ölkrise, Sowjet-Hochrüstung, RAF-Terror. Dafür war Schmidt der Richtige.

Im Kampf gegen den Terror ging der Kanzler an die Grenzen der politischen und menschlichen Verantwortung, verweigerte die Staatserpressung und riskierte in Mogadischu eine Geisel-Befreiung, die ihn das Amt hätte kosten können. In seiner bittersten Stunde, der Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer durch die RAF, sah sich Schmidt bis zuletzt als politisch Verantwortlicher.

Helmut Schmidt: Reaktionen zu seinem Tod
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"Ein großer Staatsmann, bis zur letzten Zigarette"

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Er war ein Staatsmann mit Weit- und Weltblick. Mit seinem französischen Freund Valéry Giscard d'Estaing legte Schmidt den Grundstein für den Euro. Die aufstrebende Macht Chinas erkannte er früh. Schmidt war der erste global denkende deutsche Regierungschef. Weltweit anerkannt, in seiner Partei umstritten. Ein "verkanntes Genie", schrieb sein Biograf Hans Joachim Noack. Da passt es, dass Helmut Schmidt am 1. Oktober 1982 als bislang einziger Kanzler mit einem konstruktiven Misstrauensvotum gestürzt wurde. Der Koalitionspartner FDP hatte sich von ihm abgewandt.

In seiner letzten Rolle erlangte Schmidt seinen größten Erfolg. Als Publizist und ketterauchender Welterklärer gab Schmidt aus der Hamburger "Zeit"-Zentrale heraus politische Orientierung, seine intellektuelle Schärfe ließ ihn zum Weltendeuter, zur moralischen Instanz der Deutschen aufsteigen.

Dem Musikliebhaber und Bach-Fan, der zuletzt kaum noch hören konnte, hörten die Deutschen zu wie keinem anderen Ex-Politiker. Kultstatus erlangte er in der jungen Generation. Wie sagte Schmidt selbst einmal: "Sympathie bleibt ein Geheimnis."

Am Dienstag ist der große alte Mann der deutschen Politik 96-jährig gestorben. Deutschland verliert sein politisches Gewissen.

(brö)
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