Hohenwalde Wo Merkel Kraft schöpft

Hohenwalde · Eine knappe Stunde Autofahrt Richtung Norden, und statt stickiger Hauptstadtluft beim Einsteigen am Kanzleramt strömt satte Waldluft in die Lungen. In der Uckermark geht der Puls von alleine auf Ruhemodus. Klare Seen und einsame Wanderwege durch dichte Wälder machen das "Biosphärenreservat" zum Kurzurlaubsziel. Hier tankt der Hauptstädter neue Kraft. Und hier wohnt die Kanzlerin.

  Hohenwalde - der Ort in der Uckermark, den Bundeskanzlerin Angela Merkel als ihre Heimat bezeichnet. Ihre "Datsche" steht ein Stück weiter an der linken Straßenseite - "Fotografieren verboten".

Hohenwalde - der Ort in der Uckermark, den Bundeskanzlerin Angela Merkel als ihre Heimat bezeichnet. Ihre "Datsche" steht ein Stück weiter an der linken Straßenseite - "Fotografieren verboten".

Foto: Gregor Mayntz

Wer seinen Wagen vor ihrer "Datsche" parkt und die Kamera zückt, bekommt es Sekunden später mit der Polizei zu tun. Ein freundlicher Beamter wartet geduldig, aber bestimmt, bis das Foto wieder gelöscht ist. Vorsorge für die Sicherheit der mächtigsten Frau der Welt. Die im Netz verfügbaren Bilder sind Vergangenheit. Der lichte Jägerzaun vor dem weißen anderthalbgeschossigen Häuschen ist durch eine massive Absperrung ersetzt worden.

Wenn es als einziges Grundstück im Ort nicht völlig uneinsehbar wäre, fiele die durchschnittlich-anspruchslose Datsche darauf gar nicht auf. Denn auch die rund um die Uhr wachende Polizei im Haus schräg gegenüber hält sich dezent im Hintergrund - bis es Grund zum Einschreiten gibt.

 Das Haus, in dem Angela Merkel im Templiner Waldhof ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Zunächst wohnte sie mit den Eltern links oben unterm Dach, später in einem eigenen Zimmer in der ersten Etage rechts.

Das Haus, in dem Angela Merkel im Templiner Waldhof ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Zunächst wohnte sie mit den Eltern links oben unterm Dach, später in einem eigenen Zimmer in der ersten Etage rechts.

Foto: Gregor Mayntz

Warum ausgerechnet Hohenwalde? Ein Dutzend Häuschen rechts der Dorfstraße, ein Dutzend links, und schon ist der Reisende auch wieder raus aus dem Ort. Es gibt kein Café, keine Kneipe, keinen Bäcker, nicht mal einen winzigen Laden für Einkäufe. Weiter weg erzählt man sich, die Kanzlerin werde zuweilen dabei beobachtet, wie sie sich bei Nachbarn etwas borgt, Milch zum Beispiel oder ein paar Eier.

Die Nachbarn selbst sind Fremden gegenüber reserviert. "Ganz normal", lautet die Standardantwort auf die Frage, wie sie denn so sei. "Vorsicht, Pissiger Hund", steht groß auf dem Törchen gegenüber, das Merkel immer als erstes sieht, wenn sie aus dem Haus geht. Markiert der gewollte Schreibfehler den uckermärkischen Humor?

Nein, der Hund liegt nicht begraben in Hohenwalde. Groß verkündet ein blaues Schild mit den Sternen der EU, dass hier der "Fernreit- und Kutschweg Berlin-Usedom" verläuft. Braucht eine Kanzlerin eine Kutsche? Und wenn, möchte man ihr die Benutzung auf den holprigen Pflasterwegen und unbefestigten Strecken rings ums Dorf nicht empfehlen. Auch den längeren Aufenthalt am Ortsrand nicht. Denn hier vervielfachen Dutzende von Bienenstöcken die Zahl der Lebewesen in Hohenwalde. Gegenüber zeigt eine schwarze Eule auf gelbem Grund das Naturschutzgebiet an. Man will hier ordentlich mit Natur und Nachbarschaft umgehen. Die beiden Glascontainer dürfen nur werktags zwischen sieben und neunzehn Uhr genutzt werden: "Sonn- und Feiertags kein Einwurf." Wenig Chancen für Wochenendeinwohner aus dem Kanzleramt.

Warum also Hohenwalde? Weil Gaffer keinen Anlaufpunkt finden und die Orte für Merkels Lieblingsbeschäftigung "Bewegung an der frischen Luft" direkt vor der Türe liegen? Mehrere Seen sind nicht weit, und noch zu Beginn ihrer Kanzlerschaft ging Merkel mit Mann Joachim Sauer und Gästen in der Natur schwimmen. Auch Ex-Bundespräsident Horst Köhler berichtete von einem solchen "abenteuerlichen" Erlebnis, mit Kanzlerin und Partnern einfach so in den See zu steigen. In der Datsche sei er dann vorzüglich bekocht worden. Mal Rouladen, mal Fisch, mal was aus dem eigenen Garten: Hier zieht sie Kartoffeln, aber keinen Blumenkohl, weil der "zu viel Pflege braucht und zu viele Schnecken anzieht". Seit sich die Kanzlerin im Weißen Haus für den Garten der First Lady interessierte, weiß die Welt um diese private Dimension Merkels. Und dass sie am Wochenende leger am Herd steht und Eintopf kocht. Und gerne Apfelkuchen backt.

Das wäre an vielen Orten möglich. Doch Hohenwalde hat für Merkel einen großen Vorzug: Von hier aus sind es bis zu ihrer Kindheit gerade mal 20 Minuten: Im benachbarten Templin wohnt ihre Mutter Herlind, auch Freunde und Bekannte von früher sind erreichbar. Hierhin hatte es ihren Vater Horst Kasner nach Angela Merkels Geburt in Hamburg verschlagen. Drei Jahre Pfarrer in Quitzow, dann Leiter einer Pastoralfortbildung in Templin. Im Waldhof, einer weitläufigen Einrichtung für Behinderte, war auch dafür Platz. Das "Haus Fichtengrund", in dem die kleine Angela aufwuchs, hat sich stark verändert. Die rote Backsteinfassade ist unter Putz verschwunden. Dezente Gelb- und Grüntöne wirken wie eine Anspielung auf die Blazer im Kleiderschrank der Kanzlerin. Unterm Dach hat zunächst die ganze Familie gelebt, bis Merkel ein eigenes Zimmer im ersten Stock bekam.

Manchmal fährt ein Touristenbus in den Waldhof und hält vor dem Haus. Aber es gibt keine Gedenktafel "Hier wohnte die Kanzlerin", kein Merkel-Museum. Die Räume sind in den Komplex integriert, ganz gewöhnlich vermietet. Aus dem Fenster von Merkels früherem Zimmer schaut eine junge Frau. "Betreutes Wohnen" gibt es hier nun.

Das Leben im Waldhof der Stephanus-Stiftung laufe anders als zu Merkels Zeiten, berichtet Ronny Hadaschik, einer der Betreuer. Man schlachte nicht mehr selbst, sei nicht mehr so stark mit Tierzucht und Ackerbau beschäftigt, wie Merkel es aus ihrer Kindheit mitten in der Natur berichtet. Aber das Prinzip ist geblieben in der Anlage, in der die Häuser "Morgenrot", "Sonnenschein" und "Abendrot" heißen und in denen sich Behinderte auf die Welt vorbereiten. Würde Merkel vorbeischauen, sähe sie hinter dem Glockenturm neben der kleinen Kapelle unter ihrem Fenster den kleinen Garten und erinnerte sich sicherlich an ihre ersten eigenen Astern, Möhren und Radieschen.

In der Uckermark wird Merkel unterschiedlich wahrgenommen. Da berichtet einer, dass die Kanzlerin "abgeschottet" werde, niemals selbst einkaufe und Spaziergänger die Siedlung nur gegen Vorzeigen des Personalausweises passieren dürften. "Wie in der DDR", fügt er hinzu. Die Bedienung im Café am Templiner Markt hat die Kanzlerin auch noch nie in der Stadt gesehen.

Das mag daran liegen, dass Merkel nicht auftritt wie eine Kanzlerin. "In der Schlange vor der Kasse bei Rewe kann sie plötzlich hinter dir stehen", weiß Hadaschik. Andere haben das Bild vor Augen, wie sie sonntags beim Gottesdienst neben ihrer Mutter in der Kirche sitzt. "Einfach so" und "völlig normal" lauten die meisten Umschreibungen. Man grüße sie freundlich und möglichst beiläufig, sie grüße freundlich zurück. Sonderliches Brimborium mögen die Templiner nicht - was Merkel besonders schätzt.

Die Uckermark sei "im eigentlichen Sinne Heimat für mich", sagt die Kanzlerin, und erwähnt die "wunderbare Landschaft". Wesentliches kommt hinzu: Hier ist sie nicht Kanzlerin unter Staatsbürgern, sondern hier erdet sie sich als Mensch unter Menschen.

(may-)
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