Interview mit Cem Özdemir "Grüne können auch Innenminister"

Berlin · Parteichef und Spitzenkandidat Cem Özdemir über die Aussichten der Grünen auf eine Regierungsbeteiligung, die Konsequenzen aus den G20-Krawallen und den Autogipfel der Bundesregierung am 2. August.

 Cem Özdemir ist Parteichef der Grünen.

Cem Özdemir ist Parteichef der Grünen.

Foto: dpa, lim pat scg

Sie wollten als Kind Rockstar oder Schaffner werden. Wer waren Ihre Vorbilder?

Özdemir Roger Daltrey von The Who und Lukas, der Lokomotivführer.

Warum sind Sie dann Parteichef geworden?

Özdemir Mit der Sängerkarriere in der Rockband hat es leider nicht geklappt. Und Schaffner brauchte man damals zu wenige.

Warum haben Sie sich die Grünen ausgesucht?

Özdemir Als ich angefangen habe, mich für Politik zu interessieren, hätte ich theoretisch auch in die SPD gehen können. Mein Vater war ein großer Bewunderer von Helmut Schmidt. Der Altkanzler war aber genau der Grund, warum ich nicht in die SPD wollte. Ich war gegen Atomkraftwerke, gegen die NATO-Nachrüstung. Das Thema Ökologie kam gerade auf die Tagesordnung. Deshalb lag es nahe, dass ich zu der Partei gehe, die hier den Unterschied machte.

Jetzt geht es vor der Bundestagswahl wieder um die Unterschiede. Was unterscheidet die Grünen heute noch von SPD, CDU oder Linken?

Özdemir Die Ökologie macht auch heute den Unterschied. Klar, bei den Umwelt-Überschriften toppen uns die Kollegen von SPD und Union inzwischen fast. Frau Merkel wirkt im Vergleich zu den Trumps, Putins oder Erdogans ja geradezu wie eine Lichtgestalt. Aber wenn man genauer hinschaut, sieht man, seit acht Jahren gehen die deutschen CO2-Emissionen nicht runter. Bei der Nutzung der Braunkohle sind wir traurige Weltmeister. Deshalb war der G20-Gipfel beim Klimaschutz auch so wenig erfolgreich. Wenn man von den anderen Bewegung will, darf man selbst nicht mit leeren Händen dastehen.

Aber reicht das Thema Ökologie für mehr als acht Prozent?

Özdemir Gerade jetzt braucht es uns. Die Parteien sind alle mehr oder weniger proeuropäisch, aber Union und SPD verlässt der Mut, wenn es darum geht, gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Macron eine Klimaunion oder gemeinsame Investitionsprojekte zu starten. Außerdem: Gäbe es nach der Wahl Schwarz-Gelb, würde das in der Union die Ewiggestrigen stärken. Alle diejenigen, die den fossilen Verbrennungsmotor und Kohlekraftwerke noch 100 Jahre laufen lassen wollen, freuen sich in der Union auf die FDP.

Sind die Grünen eine linke Partei?

Özdemir Wir sind unter anderem fortschrittlich, liberal, weltoffen und werteorientiert.

Linke Politiker sind durch die linksextremistisch motivierten G20-Krawalle stark in die Defensive geraten, finden Sie nicht?

Özdemir Wenn sie uns damit meinen, Nein. Jemand, der einen Polizisten angreift, ist nicht besser als jemand, der ein Flüchtlingsheim anzündet. Ich bin der Polizei sehr dankbar dafür, dass sie in Deutschland die Meinungsfreiheit und die Durchführung öffentlicher Veranstaltungen ermöglicht.

Wer jetzt über Fehler der Polizei redet, erntet doch einen Shitstorm, oder nicht?

Özdemir Nein, das finde ich nicht. Man darf die Hamburger Polizeistrategie infrage stellen. Nur das kann in keiner Weise die Gewalttaten des Schwarzen Blocks rechtfertigen. Die hätten ihre Gewaltexzesse auch gemacht, wenn es eine ganz andere Polizeistrategie gegeben hätte. Denen ging es nur darum, maximalen Schaden anzurichten. Sie wollten Polizisten angreifen und ihnen nach dem Leben trachten . Diese G20-Chaoten sind schlimme Verbrecher. Ich hoffe, dass so viele wie möglich von ihnen durch die Polizei dingfest gemacht werden und ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.

Wir sind hier in der Autostadt Stuttgart. Die Bundesregierung will die Hersteller Anfang August auf einem Autogipfel dazu bringen, Diesel-Kunden zu entschädigen...

Özdemir Nachdem CSU-Verkehrsminister Dobrindt sich jahrelang ausschließlich mit der unsinnigen Maut beschäftigt hat, wird es ja auch langsam Zeit. Selbst in Bayern verliert man ja offenbar langsam die Geduld mit dem Fahrverbots-Minister. In der Diesel-Affäre wacht die große Koalition jetzt auf den letzten Drücker auf. Diese unsinnige Kumpanei zwischen Regierung und Autoindustrie - die einen tun so, als ob sie Grenzwerte einhalten und die anderen, als ob sie ernsthaft kontrollieren - muss endlich aufhören. Es wird höchste Autobahn, dass die Autoindustrie die Diesel-Kunden entschädigt.

...will sie aber nicht!

Özdemir Muss sie aber. Die deutsche Autoindustrie muss die Nachrüstungskosten bei den betroffenen Diesel-Autos komplett übernehmen. Auf dem Autogipfel muss die Bundesregierung aber zugleich Zukunft gestalten. Wir brauchen eine einheitliche, verlässliche und funktionelle Ladesäulen-Infrastruktur für E-Autos, ein Ende des Stecker- und Karten-Chaos und ein Bonus-Malus-System bei der Kfz-Steuer, um saubere Autos auf die Straßen zu bekommen. All das hat die große Koalition bisher verschlafen.

Das ist doch total unwahrscheinlich!

Özdemir Wir müssen aufwachen. Es geht um unsere wichtigste Industrie und um den Weltmarkt. China könnte bald nur noch Autoimporte von Herstellen erlauben, die eine Elektroquote erfüllen. Da wir im Moment jedes dritte Auto nach China exportieren, aber keine wettbewerbsfähigen E-Autos haben, hieße das für uns, dass der wichtigste deutsche Industriezweig von der chinesischen Regierung kaputtgemacht werden könnte. Das muss doch jedem Patrioten schlaflose Nächte bereiten. Dobrindts Weiter-So ist fahrlässig.

Viele Bürger halten den Beschluss der Grünen, ab 2030 keine Autos mit fossilen Verbrennungsmotoren mehr zuzulassen, für völlig gaga, weil sie sich E-Autos nicht leisten können.

Özdemir Erstens dreht sich die Stimmung gerade. 47 Prozent der Deutschen steht hinter unserer Forderung, ab 2030 nur noch abgasfreie Kraftfahrzeige neu zuzulassen. Und zweitens ist auch unsere Wirtschaft schon viel weiter, als ihre vermeintlichen Freunde von der Abteilung Hasenfuß in der großen Koalition und bei der FDP. Porsche, Volvo, Opel und andere Hersteller haben angekündigt, bereits vor 2030 auf Elektromobilität umzustellen. Wer heute sagt, der Verbrennungsmotor ist die Zukunft, erinnert mich an Kaiser Wilhelm II., der, als der Verbrennungsmotor kam, sagte, dass das Auto nur eine vorübergehende Erscheinung sei, der Kutsche unterlegen.

Was ist mit dem Dieselprivileg bei der Mineralölsteuer?

Özdemir Das Dieselprivileg ist nicht mehr begründbar und muss Schritt für Schritt komplett abgeschafft werden.

Was müssen wir noch tun gegen den Klimawandel?

Özdemir Es nützt nichts, wenn wir uns weiter über Trump aufregen. Ich würde an Trump vorbei Allianzen mit US-Bundesstaaten wie Kalifornien schließen. Das grün-regierte Baden-Württemberg macht das bereits. Gleichzeitig muss die EU beim Klimaschutz vorangehen. Jetzt haben wir die einmalige Chance, dass uns der französische Präsident Macron dafür die Hand reicht. Wir brauchen Macrons Klimaunion in Europa: Die Franzosen gehen runter bei der Atomenergie und gemeinsam gehen wir runter bei der Kohleverstromung. Polen müssen wir helfen, ebenfalls schrittweise aus der Kohle auszusteigen.

Beim Doppelpass plant die Union einen so genannten Generationenschnitt: Ab der dritten Migranten-Generation soll der Doppelpass abgeschafft werden, die Enkel sollen sich entscheiden, ob sie Deutsche oder Ausländer sein wollen. Wie finden Sie das?

Özdemir Für mich war der Doppelpass nie Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, also zur Einbürgerung. Im Jahr 2017 ist es an der Zeit, das Geburtsrecht auszuweiten. Überall da, wo ein Elternteil einen legalen Aufenthalt in Deutschland hat, sollen auch die Kinder den deutschen Pass bekommen. Wenn jemand seit 40, 50 Jahren oder in dritter oder vierter Generation hier lebt, dann sollte er hier wählen und nicht woanders.

Ich habe Sie zu Beginn gefragt, was Sie als Kind werden wollten. Nun frage ich Sie, ob Sie in der nächsten Wahlperiode Außenminister werden möchten?

Özdemir (lacht) Ich will erst mal die Grünen zur drittstärksten Fraktion im Bundestag machen und in die nächste Bundesregierung führen. Die Umsetzung einer werte- und nicht nur interessengeleiteten Europa- und Außenpolitik ist genauso notwendig wie eine echte Energie-, Verkehrs- und Landwirtschaftswende. Integration und Sicherheit sind zentrale Herausforderungen, für die wir die richtigen Antworten haben.

Aha, wieso? Da könnten Sie sich doch die Finger verbrennen.

Özdemir Bei einem CDU-Innenminister reist ein Mann wie Anis Amri monatelang ungehindert durch Europa und Deutschland, tut alles, um auffällig zu sein, lässt nichts aus, um jedes Klischee eines Terroristen zu bedienen, und was passiert: nichts. Unter einem grünen Innenminister würde sich der eine oder andere einen CDU-, CSU- oder SPD-Innenminister zurückwünschen. Islamisten, Rechtsradikale oder Linksradikale hätten sicherlich nichts zu lachen bei uns. Aber wir verteilen keine Ministerposten vor der Wahl.

Das Interview führte Birgit Marschall.

(mar)
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