Analyse Ist die große Koalition am Ende?

Berlin · Union und SPD stecken nach einem guten Jahr in einer existenziellen Krise. Auf beiden Seiten ist der Frust enorm, Vertrauen ist zerstört. Die Partner werfen sich gegenseitig Knüppel zwischen die Beine.

Die Liste der Streitthemen in der großen Koalition
Infos

Die Liste der Streitthemen in der großen Koalition

Infos
Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ist zur Symbolfigur für den Zustand der großen Koalition geworden. Noch vor einem Jahr war sie der Shootingstar im Kabinett, gelobt sogar von den wenigen verbliebenen Konservativen in der CDU ob ihrer Zuverlässigkeit und ihrer Professionalität. Ein Jahr später ist Nahles das Aschenputtel, das immer wieder mühsam Erbsen und Linsen auseinandersortieren muss. Das gilt für ihre aktuellen Projekte, den Mindestlohn und die Arbeitsstättenverordnung.

Was sich im Moment im Berliner Regierungsviertel abspielt, muss man sehr ernst nehmen. Die große Koalition steckt in einer Vertrauenskrise, die täglich weiter eskaliert.

Die Spin-Doktoren der SPD schwärmten gestern aus, um ihren Unmut über die Union kundzutun. Bislang hatten die drei Parteichefs die Treffen im Koalitionsausschuss jeweils so gut vorbereitet, dass man vor bösen Überraschungen gefeit war. Vizekanzler Sigmar Gabriel wollte dies auch in der vergangenen Woche so halten. In seinem Ministerium waren Beschlusspapiere vorbereitet worden. Er hatte aber die Rechnung ohne die Union gemacht. Bei der Sitzung der Koalitionsspitzen konfrontierten Bundeskanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer den SPD-Vorsitzenden mit ihrem Schwenk beim "Soli". Sie teilten ihm mit, dass die Union den steuerlichen Solidaritätszuschlag ab 2020 abschmelzen wolle - eine 180-Grad-Wende zur bisherigen Politik.

Andrea Nahles - Fraktionsvorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion
9 Bilder

Das ist Andrea Nahles

9 Bilder

Gabriel sei von der Nachricht "echt überrascht" worden, hieß es in Regierungskreisen. Es sei das erste Mal gewesen in dieser Legislaturperiode, dass die drei Parteichefs von CDU, CSU und SPD eine wichtige Entscheidung nicht vorher miteinander abgestimmt hätten. Bislang war das Vertrauensverhältnis zwischen Merkel und Gabriel die tragende Achse der Koalition. Es gibt keine andere: Die beiden Fraktionschefs Volker Kauder (CDU) und Thomas Oppermann (SPD) duzen einander zwar inzwischen, eine belastbare Beziehung haben sie aber nicht.

Die große Koalition war mit viel Zuversicht gestartet. SPD-Chef Sigmar Gabriel war es gelungen, aus 25 Prozent Zustimmung bei den Wählern 50 Prozent eigene Inhalte im Koalitionsvertrag zu zaubern. Seine SPD sah er durch den Mitgliederentscheid gestärkt. Die Sozialdemokraten rechneten sich aus, dass sie mit Mindestlohn, Mietpreisbremse und Rente ab 63 alsbald in der Wählergunst steigen würden. Zugleich sah der SPD-Chef für sich die Rolle, die Wirtschaftskompetenz für seine Partei zurückzugewinnen. Der Plan ging nicht auf, und im Bemühen um Wirtschaftskompetenz stößt Gabriel vor allem bei den Genossen an seine Grenzen. Zudem ist das Verhältnis zwischen Gabriel und seiner Generalsekretärin Yasmin Fahimi so angespannt, dass eine konstruktive Zusammenarbeit kaum noch möglich ist. Das steigert die Nervosität der Sozialdemokraten mit Blick auf ihre Kampagnenfähigkeit 2016 und 2017.

Auch in der Union ist der Frust groß: Bislang sind die Umfragewerte glänzend. Doch den Spitzen in Berlin ist klar, dass sie vor allem in der hohen Zustimmung der Bürger zur Kanzlerin begründet sind. Bei den meisten bisher von der großen Koalition verabschiedeten Gesetzen ballte ein großer Teil der Unionsabgeordneten die Faust in der Tasche. Die Geduld mit den Sozialdemokraten und den vielen Projekten, die sie auf Kosten der Unionsprogrammatik durchdrücken, ist am Ende.

Bundesminister: Das Kabinett der großen Koalition
18 Bilder

Das Kabinett der großen Koalition

18 Bilder
Foto: RP. DPA

Und das bekommt die SPD gerade schmerzhaft zu spüren: Nicht nur Andrea Nahles und Sigmar Gabriel mussten in dieser Woche einstecken. Auch Familienministerin Manuela Schwesig steht düpiert da. Wortreich hatte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) öffentlich versprochen, dass er die anstehende Kindergelderhöhung eng mit der SPD-Familienministerin abstimmen werde. Schwesig wollte die Kindergelderhöhung nutzen, sich als Anwältin der Familien und insbesondere der Alleinerziehenden im Land zu profilieren.

Dem Finanzminister, über den Schwesig bisher immer gut gesprochen hat, muss man noch nicht einmal unterstellen, dass er der jungen Kabinettskollegin den Stich nicht gegönnt hätte. Die schwarze Null im Bundeshaushalt ist Wolfgang Schäuble aber näher als der rote Koalitionspartner im Kabinett. Daher ließ er im Alleingang seine Beamten nur die kleinstmöglichen Summen in den Gesetzentwurf zur Erhöhung der Kinderfreibeträge und des Kindergelds einsetzen, die der Existenzminimumbericht vorgibt. Das Gesetz soll am 25. März ins Kabinett. Viel Zeit hat die Familienministerin also nicht mehr, das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden.

Dass sich die Stimmung in der großen Koalition wieder bessert, ist nicht zu erwarten. Insbesondere der Streit um den Solidaritätszuschlag verhärtet die Fronten. Die Sozialdemokraten, die in den Ländern ganz überwiegend die Regierungsverantwortung tragen, müssen landauf, landab für schlechte Kommunalfinanzen, klamme Landeshaushalte und Sparpolitik geradestehen.

Derweil profiliert sich die Union als Verfechterin der Haushaltssolidität und stellt den Bürgern mit einer schrittweisen Abschaffung des Solidaritätszuschlags sogar noch Steuersenkungen in Aussicht. Da ist sie wieder, die alte Rollenverteilung, die die SPD in dieser großen Koalition unbedingt vermeiden wollte: die Genossen schwitzend im Maschinenraum, während die Union auf dem Sonnendeck steht. Angesichts dieser Rollenverteilung kann sich jeder Sozialdemokrat an drei Fingern ausrechnen, wie der nächste Bundestagswahlkampf 2017 laufen wird.

Die Spirale des Misstrauens, der gegenseitigen Vorwürfe und der konträren Positionen wird sich heute voraussichtlich weiterdrehen. Gestern Abend nutzten die Vertreter der SPD-Länder in Berlin ihre traditionelle Zusammenkunft am Abend vor der Bundesratssitzung, um eine neue gemeinsame Position zum "Soli" auszuloten.

(mar / may- / qua)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort