Jamaika-Sondierungen Was pragmatisches Handeln bedeutet

Düsseldorf · In den Verhandlungen zur Jamaika-Koalition wollen alle pragmatisch handeln. Doch was heißt das? Schließlich verbirgt sich dahinter eine große Denkschule des 19. Jahrhunderts, die jetzt wieder für uns bedeutsam wird.

Sondierungen in Berlin (v.l.): Jürgen Trittin (Grüne), Alexander Dobrindt (CSU), Christian Lindner (FDP), Angela Merkel (CDU), Wolfgang Kubicki (FDP), Peter Altmeier (CDU).

Sondierungen in Berlin (v.l.): Jürgen Trittin (Grüne), Alexander Dobrindt (CSU), Christian Lindner (FDP), Angela Merkel (CDU), Wolfgang Kubicki (FDP), Peter Altmeier (CDU).

Foto: dpa, nie gfh

Eigentlich sind sich alle Beteiligten der Jamaika-Verhandlungen einig, zumindest in der Art ihres Denkens: So plädiert der baden-württembergische Ministerpräsident und Grünen-Unterhändler Winfried Kretschmann für einen pragmatischen Kurs seiner Partei in der Klimapolitik; Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) fordert alle Beteiligten auf, pragmatisch an die Dinge heranzugehen, "das heißt: Ideologie bitte zur Seite stellen"; und FDP-Chef Christian Lindner empfiehlt "generell eine Abrüstung in koalitionsphilosophischen Fragen" mit dem Hinweis: "Wir werden ganz pragmatisch klären, was mit wem erreicht werden kann."

So viel steht demnach fest, ganz pragmatisch soll es zugehen, und das ist nicht nur mehr als nichts, sondern schon eine ganze Menge. Nun ist pragmatisches Handeln alles andere als verwerflich. Doch verbinden wir mit dieser Haltung bisweilen nur eine Art Funktionieren. Pragmatismus klingt dann landläufig zu oft nach zu viel Kompromiss und manchmal nach dem berühmten sauren Apfel, in den Verhandlungspartner halt beißen müssen. Vielleicht gehen wir mit dem Wort fahrlässig und oberflächlich um. Weil echter Pragmatismus eine Denkschule ist, die Theorie und Praxis zu vereinen sucht. Vorrang hat dabei stets das Handeln.

Pragmatismus beginnt bei uns und unserer Sicht auf die Welt

Es ist kein Zufall, dass die Philosophie des Pragmatismus in einem Land zu einer Zeit geboren und populär wird, in dem viel gehandelt werden muss; in dem der Geist des Aufbruchs herrscht und die Lösung von Problemen das Gebot der Stunde ist. Das ist das Amerika des 19. Jahrhunderts, und Philosophen wie Charles Sanders Peirce (1839-1914) und William James (1842-1910) gehören zu den Tonangebern. Im Goldenen Zeitalter der USA geht es ihnen darum, die besten Lösungen für das Leben zu finden - und zum Wohle des Gemeinwesens.

Sicher, das wollen fast alle (oder behaupten es zumindest). Doch Pragmatismus als Methode ist tiefgreifender als ein Lippenbekenntnis zum gerechten Handeln. Er beginnt bei uns und unserer Sicht auf die Welt. Weil uns allen für echtes pragmatisches Handeln die eigenen Überzeugungen im Wege stehen, feste Regeln, nach denen wir agieren. So notwendig diese auch sind - niemand kann im Zustand des ständigen Zweifelns leben -, so sehr versperrt uns eine solche Verhaltensroutine den Blick auf wirklich neue Lösungen. Denn aufgrund unserer Überzeugungen setzen wir uns Handlungsziele und wählen dann nur noch die geeigneten Mittel. Das, was wir erreichen wollen, ist gegeben.

Was aber, wenn solche Ziele sich als ein Produkt unserer Vorstellungen erweisen? Wenn das, was wir uns hübsch ausmalen, mit dem, was sein wird, nur wenig zu tun hat? Oder mit den Worten des Frankfurter Politikwissenschaftlers Gunther Hellmann noch radikaler gefragt: Wenn es sich bei unseren Beschreibungen der Welt um mehr oder weniger unsere Erfindungen handelt? Das ist dann der Punkt, an dem wir über die Ziele neu nachdenken sollten - und zwar permanent. Pragmatisches Handeln ist ein andauerndes Wechselspiel zwischen Denken und Handeln, zwischen Theorie und Praxis. Zwangsläufig ändern sich dabei die einstmals gesetzten Ziele. Sie müssen nicht unbedingt verworfen werden, aber sie werden höchstwahrscheinlich komplexer.

Erst jetzt kann das Potenzial freigesetzt werden für kreative Leistungen. Eine der Grundbedingungen dabei ist, dass auch der Handelnde sich ändert, indem er fähig und offen wird, neue Aspekte der Wirklichkeit zu erfassen und anzunehmen. Unser Blick aufs Geschehen wandelt sich mit der Zeit; "Erfahrungsschatz" ist hierbei wörtlich zu verstehen. Pragmatisches Handeln als ein Prozess ähnelt in Ansätzen einem naturwissenschaftlichen Experimentieren.

Die hohen Ideale sind kaum mehr als unnötiger Ballast

Denken und Handeln sind im Optimalfall eins. Also wird unreflektiertes Tun ebenso ausgeschlossen wie reines Theoretisieren. Auch dahinter steckt jede Menge Sprengkraft: Die hohen Ideale, all die Weltanschauungen und Ideologien haben bei dieser Methode nichts mehr zu suchen. Sie sind kaum mehr als der unnötige Ballast, der aller Kreativität im Weg steht und uns schwerfällig macht.

15 Zitate der Jamaika-Sondierer
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Foto: Fredrik von Erichsen/dpa

Wie beweglich man stattdessen in unruhigen Zeiten wie den unsrigen sein muss, belegen die Bekenntnisse der Jamaika-Koalitionäre. Wer liest denn noch eingehend die Grundsatzprogramme der Parteien, wer handelt im Tagesgeschäft der Politik wirklich noch danach? Und wie vergeblich wird auf der anderen Seite etwa das Christliche in den Parteinamen von CDU und CSU angemahnt? Der klassische Pragmatismus muss sich so auch dieser kritischen Frage stellen: Wenn unser Denken vom Handeln bestimmt wird, bleibt nur noch wenig Raum für das Unbegreifliche und Metaphysische - konkreter gesprochen: für den Glauben.

Angela Merkel gilt als Meisterin dieses Faches

Pragmatisch geben sich bei den Koalitionsverhandlungen fast alle: Schmidt, Kretschmann, Lindner und all die anderen. Als Meisterin dieses Faches aber gilt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ganz gleich ob in Fragen der Gesundheits- und Energiepolitik, in Fragen der Rente und des Arbeitsmarktes - Merkel ändert des Öfteren die Richtung und die Beschreibung ihrer Ziele. Wohlmeinende nennen das dann "sachorientiert"; die anderen sehen darin eine gewisse Beliebigkeit.

Vor langer Zeit hat der Philosoph Hans Vaihinger (1852-1933) so etwas eine "Politik des Als Ob" genannt. Weil uns nichts anderes übrigbleibt, agieren wir nach bewussten Annahmen, wir tun so, "als ob". Die Ausgangsfrage ist, welche Konsequenzen bei all dem wahrscheinlich sind.

Vielleicht ist der politische Pragmatismus die plausible und die angemessene Antwort auf eine Welt, die in unserer Wahrnehmung komplexer geworden ist. Und die uns darum stärker als früher zu verstehen gibt, dass in ihr absolute Gewissheiten kaum zu bekommen sind.

(los)
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