Gastbeitrag von Jürgen Rüttgers Adenauer wollte die Wiedervereinigung

Düsseldorf · Zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung schreibt der ehemalige NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers in einem Gastbeitrag über die Rolle Konrad Adenauers.

 Der ehemalige NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers schreibt in einem Gastbeitrag über die Deutsche Einheit.

Der ehemalige NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers schreibt in einem Gastbeitrag über die Deutsche Einheit.

Foto: dpa, fux

Vor 25 Jahren, am 3. Oktober 1990, wurden Deutschland und Europa wiedervereinigt. Heute sind die Binnengrenzen fast überall in der Europäischen Union weggefallen. Leider sind andere Grenzen in unserer Nachbarschaft wieder höher geworden. Man denke nur an die Ukraine, an Ungarn, an Lampedusa oder Melilla. Der Krieg ist wieder nach Europa zurückgekehrt — auf der Krim und davor schon auf dem Balkan.

Wie man mit der eigenen Geschichte umgeht, darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Politiker machen Geschichte. Das weiß man. Politiker versuchen Geschichtsschreibung zu beeinflussen. Auch das gibt es. Aber dass Historiker über Geschichtsschreibung Geschichte zu beeinflussen versuchen, also Politik mit Geschichtsschreibung machen wollen, das wird selten so deutlich wie an den vielen Erinnerungstagen unserer Zeit, auch am 3. Oktober, dem Tag der deutschen und europäischen Einheit.

Ein Beispiel, bei dem die Wahrheit von politischen Interessen überlagert ist, ist die Behauptung, Konrad Adenauer, der 1. Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, habe die deutsche Wiedervereinigung nie mit großem Nachdruck angestrebt. Diese Behauptung ist Teil einer Geschichtsfälschung, mit der bis heute versucht wird, die Gründungsjahre der Bundesrepublik als eine Zeit der Restauration und des Anknüpfens an die Nazi-Zeit zu diffamieren. So wurde 1958 im Bundestag behauptet, die "Sowjetunion habe in einer Note vom 10. März 1952, mit der sie den westlichen Besatzungsmächten einen Entwurf für den Abschluss eines Friedensvertrages übermittelte, für Gesamtdeutschland freie Wahlen angeboten". Diese Behauptung sei falsch, antwortete Adenauer damals und legte dar, dass Stalin in Wirklichkeit die Neutralisierung Deutschlands gefordert hatte: "Die Sowjetunion wollte die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Welt verhindern". Die eindeutige Entscheidung Adenauers für eine Außen- und Deutschlandpolitik im Rahmen der westlichen Allianz und für einen Vorrang der Freiheit hat sich vor 25 Jahren bei der friedlichen Revolution in der DDR als richtig und erfolgreich erwiesen.

In seinen "Erinnerungen" fasste er 1967 den Kernpunkt der damaligen Auseinandersetzung zusammen: "Und nur wenn die Bundesrepublik frei blieb, würde sie auch den 17 Mio. Deutschen, die in der Sklaverei der Sowjetunion lebten, einen Weg zur eigenen Freiheit öffnen".

Immer wieder gab es Konzepte und Initiativen, um die Wiedervereinigung zu erreichen. Es gab nicht erst unter Willy Brandt, sondern schon zu Adenauers Zeiten eine deutsche Ostpolitik.

So hat Adenauer in einer Unterredung am 19. März 1958 mit dem sowjetischen Botschafter Smirnow an die Moskauer Regierung die Frage gerichtet, ob diese bereit sei, "die Sowjetzone den Status Österreichs zu geben". Adenauer wollte "aus der Sackgasse herauskommen". Der Vorschlag wurde von der Sowjetunion abgelehnt.

In den Jahren 1959 und 1960 schlug die Bundesregierung mit dem "Globke-Plan" vor, auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages in der Bundesrepublik und der DDR eine Volksabstimmung über die Wiedervereinigung abzuhalten. Würde die Mehrheit in einem der beiden Staaten nicht erreicht, so blieben sie getrennt und souverän. Für die Übergangszeit bis zur Umsetzung der Wiedervereinigung sollte die Existenz zweier deutscher Staaten bei einem von den Vereinten Nationen garantierten Sonderstatus für Berlin anerkannt werden. Mit seiner Forderung nach Geltung der Grundrechte und der Abhaltung freier Wahlen in der DDR stellten diese Vorschläge das Prinzip der individuellen Freiheit über das Ziel der "nationalen Einheit".

Am 6. Juni 1962 schlug Adenauer dem sowjetischen Botschafter Smirnow einen "Burgfrieden" für zehn Jahre vor. Dies hätte bedeutet, "die Dinge während dieser Zeitspanne so zu lassen, wie sie sich jetzt darböten. Allerdings müsse dafür gesorgt werden, dass die Menschen in der DDR freier leben könnten, als es jetzt der Fall sei", sagte Adenauer. Am 6. September 1962 wies Adenauer sogar darauf hin, "dass das menschliche Problem der Bewohner der DDR und Berlins bedeutender sei als das nationale".

Die bis heute immer wiederholte Behauptung, Konrad Adenauer habe kein Interesse an der Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands gehabt, war und ist also eine Legende.

Adenauer hat die Bundesrepublik fest in der Gemeinschaft der freien Völker des Westens verankert hat. Der Westen hat die Freiheit in West-Berlin und an der Zonen-Grenze verteidigt. Es war das vereinte Europa und die Nato, die die friedlichen Revolutionen der Solidarność in Polen, der Charta 77 in der Tschechoslowakei, der Menschenrechtsketten in den baltischen Ländern und der Grenzöffnung durch die Ungarn und den vielen Menschen mit Kerzen in den Händen in der DDR die Chance gegeben haben, den Sieg der Freiheit Wirklichkeit werden zu lassen. Auch hier hatte Adenauer recht: Die Freiheit lässt sich nicht auf Dauer unterdrücken.

Es war Helmut Kohl, der als Kanzler der Einheit den langen Weg erfolgreich beendete, der mit Adenauer begann und über Willy Brandts Ost-Politik zur Wiedervereinigung führte. Und deshalb bleibt auch in Zukunft für Deutschland unverzichtbar, Teil des freien Westens zu sein, ebenso wie die Vollendung der Einheit Europas zu erreichen und die deutsch-französische Freundschaft zu stärken und auszubauen. An der Erfüllung dieser Aufgaben entscheidet sich die Zukunft Deutschlands und Europas.

Jürgen Rüttgers war Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Er arbeitet als Anwalt in der Rechtsanwaltsgesellschaft Beiten Burkhardt und als Professor im Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.

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