Interview mit Jürgen Trittin "Die westliche Politik krankt an ihrer Scheinheiligkeit"

Düsseldorf · Der Grüne Jürgen Trittin sprach mit unserer Redaktion über mögliche Lösungen des Syrienkonflikts, die Doppelmoral des Westens und die Zukunft der Energiepolitik in Deutschland.

 Jürgen Trittin im Gespräch mit unseren Redakteuren.

Jürgen Trittin im Gespräch mit unseren Redakteuren.

Foto: H.-J. Bauer

Die Nato erhöht die militärische Präsenz im Baltikum und Osteuropa. Brauchen die Länder unseren bewaffneten Beistand?

Trittin Ich verstehe die Nervosität unserer osteuropäischen Partner. Aber ich halte das für falsch. Warum müssen wir Herrn Putin eine Begründung für seine autokratische Politik nach innen liefern? Wir sollten ihn lieber daran erinnern, dass er selbst der Nato-Osterweiterung zugestimmt hat. Die Gegenleistung war, dass es dort keine dauerhafte Stationierung von Nato-Truppen gibt. Genau daran sollten wir uns halten.

Wie leistet man Putin Widerstand?

Trittin Wo es nötig ist, haben wir ein effektives Sanktionsregime.

Polen und die baltischen Staaten fühlen sich aber bedroht.

Trittin Es geht, wie die Nato selbst sagt, um Befindlichkeiten dieser Länder. Sie fühlen sich bedroht, sie sind es de facto aber nicht.

Glauben Sie wirklich, dass Putin die Grenzen der Nato-Staaten respektiert? Seine Flugzeuge haben wiederholt fremdes Hoheitsgebiet überflogen.

Trittin Das sind Muskelspiele, die die Nato auch beherrscht. Aber er kann es sich nicht leisten, Nato-Staaten anzugreifen. Das ist aus meiner Sicht ein ausreichender Schutz. Mehr Nato—Truppen haben in diesen Ländern nichts verloren.

In Syrien spielt Russland auch nicht gerade eine konstruktive Rolle.

Trittin Konstruktivität ist in Syrien auf allen Seiten Mangelware.

Der Westen versucht immerhin, die gemäßigte Opposition im Lande zu stützen...

Trittin Unsere Freunde die Saudis haben dort Islamisten groß gemacht und wir haben es ihnen mit Rüstungsexporten gelohnt. Und vorher haben wir jahrelang mit Assad die engsten Beziehungen gehabt. Ich darf nur an die Kooperation zur Freilassung israelischer Geiseln aus der Gefangenschaft der assad-freundlichen Hisbollah erinnern.

Damals hat Assad aber keinen Krieg gegen das eigene Volk geführt.

Trittin Er war schon damals ein blutiger Diktator — aber man hielt ihn für nützlich. Daran krankt die westliche Politik. An Doppelmoral und Scheinheiligkeit. Und wenn es wie so oft schief geht, versucht man mit einem radikalen Seitenwechsel das Problem zu beheben. Und macht es noch schlimmer. Plötzlich wollte Europa Assad und seinen übermächtigen Verbündeten Iran schwächen. Das war alles nicht sehr konstruktiv.

Wie kann man den Krieg beenden?

Trittin Klar ist, dass keiner diesen Krieg gewinnen kann. Deshalb ist nur eine Verhandlungslösung denkbar.

Man sollte also auch mit Assad verhandeln?

Trittin Wir müssen mit allen Beteiligten reden, mit den Autokraten Erdogan und Putin, dem syrischen Regime und den diversen Oppositionsgruppen. Es geht darum, das Töten zu beenden. Dahinter muss leider vieles zurückstehen.

Trotzdem wird es dauern. Müssen wir uns auf noch viel mehr Flüchtlinge einstellen?

Trittin Der Krieg ist die Fluchtursache. Solange er anhält fliehen Menschen, so lange, wird es weiter Tote im Mittelmeer geben. Hier muss auch die Türkei handeln.

Was müssen wir den Türken bieten?

Trittin Wir müssen sie entlasten und in sehr umfänglicher Zahl endlich große Kontingente an Flüchtlingen nach Europa holen. Wir müssen aber sicherlich auch finanziell helfen, um die hohe Zahl der Flüchtlinge zu versorgen.

Wie viel kann Deutschland aufnehmen?

Trittin Europa wird am Ende sechsstellige Zahlen pro Jahr aufnehmen müssen, wenn wir nicht handeln, Genauer kann man es nicht sagen.

Das klingt nach Obergrenze.

Trittin Es wird weiter Flucht geben. Wenn wir das Sterben im Mittelmeer brauchen wir großzügige Aufnahmekontingente. Deutschland macht jetzt das Gegenteil. Es schickt Soldaten in die Ägäis und gauckelt der Öffentlichkeit vor, hier ginge es um die Jagd auf Schlepper. Das ist ein von der Leyen Märchen. Ihr geht es um Flüchtlingsabwehr.

Zur Energiepolitik. In Deutschland tobt eine Debatte um den Kohleausstieg. Wann ist er machbar?

Trittin Kohle hat keine Zukunft, das wissen Politik, Konzerne und Gewerkschaften — und die Finanzmärkte. Nun kommt es darauf an, den Ausstieg sozialverträglich zu organisieren. Deutschland hat beim Bergbau gezeigt, wie man das mit Bedacht macht.

Ist 2030 Schluss mit Braunkohle, wie es Reiner Priggen für machbar hält, oder 2050, wie Hannelore Kraft sagt?

Trittin Wenn man den Ausstieg ohne betriebsbedingte Kündigungen macht, ist man näher bei 2030 als bei 2050. Wenn wir den Prozess jetzt einleiten. Es macht keinen Sinn, den Strukturwandel aufzuhalten — das hat NRW erlebt. Lieber sollten wir die Energiewende vorantreiben, auch beim Thema Mobilität.

Sie wollen wie Umweltministerin Hendricks eine Kaufprämie für Elektroautos?

Trittin Umgedreht wird ein Schuh draus. Sie will jetzt endlich die Kaufprämie, die wir seit Jahren fordern. Per Doppelschlag ließe sich viel fürs Klima tun: Wir sollten die Privilegierung des Diesel bei der Mineralölsteuer streichen. Dann bekämen wir die Milliarden zusammen, die wir brauchen, um den Kauf von Elektroautos etwa mit 5000 Euro pro Stück zu fördern — und die Gleichstellung des Diesels bei der KfZ-Steuer herzustellen. Zugleich würde durch die sinkende Zahl der Diesel das Klima entlastet. Volkswagen ist, das zeigt auch der Abgasskandal, mit seiner Dieselstrategie gescheitert. Elektro- und Hybrid-Autos gehört die Zukunft.

Sie leiten die Atom-Kommission. Die EU hat ein Gutachten vorgelegt, wonach die Rückstellungen der Atomkonzerne europaweit zu gering sind. Wie sieht es in Deutschland aus?

Trittin Das Gutachten, das der Bundeswirtschaftsminister in Auftrag gegeben hat, zeigt, dass die Rückstellungen der vier deutschen Atomkonzerne im europäischen Vergleich vertretbar sind.

Das heißt ausreichend hoch und sicher?

Trittin ... ich sage: vertretbar. Das eigentliche Problem ist ein anderes, wie das Gutachten auch zeigt: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Konzerne die Rückstellungen auf Dauer auch erwirtschaften können, liegt nur bei 50 Prozent. Und da sind die 4 Unternehmen unterschiedlich stark in Gefahr.

Sie sprechen RWE an. Was bedeutet eine Lösung des Ausstiegsproblems für den Steuerzahler?

Trittin Es gibt eine Pflicht der Konzerne, Rückbau, Verschrottung und die Endlagerung der Meiler zu finanzieren. Aber die Pflicht nützt nichts, wenn die Unternehmen nicht mehr existieren und die Rückstellungen weg sind. Dann muss der Staat, also der Steuerzahler, ran. Das Risiko, dass das passiert, wollen wir verringern. Da ist die Atomkommission auf einem gutem Weg.

Wird es eine Stiftung oder einen Fonds geben?

Trittin Bei der Stiftungsidee der Unternehmen, würden sie komplett aus der Haftung für mögliche Kostensteigerungen entlassen. Das ist mit dem Verursacherprinzip nicht zu vereinbaren. Also braucht es aus den genannten Gründen einen anderen Weg.

Darf man die Konzerne denn aus der Haftung entlassen? Schließlich haben sie jahrelang Milliarden mit der Atomkraft verdient.

Trittin Das Verursacherprinzip gilt. Es kommt darauf an, zu sichern, dass wenn diese Gelder fällig sind, sie auch zur Verfügung stehen. Damit derjenige, der die Aufgaben von Rückbau bis zu Zwischen- und Endlagerung macht, sie auch bezahlen kann.

Klar ist, dass die Unternehmen ihre bereits gebildeten Rückstellungen von 38 Milliarden übertragen werden. Sollen sie cash zahlen oder dem Staat Anteile überlassen?

Trittin Wohl kaum alle. Der Börsenwert einiger der Unternehmen entspricht der Höhe der Rückstellungen. Das würde eine Komplett- Verstaatlichung bedeuten, das ist weder im Interesse des Staates noch der Unternehmen. Zudem: Einzelne Assets, die die Konzerne gerne abgeben würden, will niemand haben.

Zum Beispiel Kohlekraftwerke.

Trittin Aber zukunftsträchtige Sparten wie Windparks oder Stromnetze wollen die Konzerne nicht abgeben. Sie würden im eigenen Interesse wohl eher in Geld zahlen.

Die Milliarden hat RWE aber nicht ...

Trittin Ich will nicht über einzelne Konzerne reden. Grundsätzlich: Rückstellungen sind heute schon Fremdkapital. Unternehmen und Finanzmärkte werden einen sauberen Schnitt begrüßen. Ende Februar werden wir unseren Bericht vorstellen.

Mit Jürgen Trittin sprachen Antje Höning und Martin Kessler.

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