Gastbeitrag Das bürgerliche Fremdeln mit der Politik

Düsseldorf · Die bürgerliche Mitte fühlt sich von den regierenden Parteien immer weniger verstanden. Dies kann dazu führen, dass sie sich dem Rechtspopulismus zuwendet, schreibt Gastautor Karl-Rudolf Korte.

 Ein zerstörtes Wahlplakat in Rostock.

Ein zerstörtes Wahlplakat in Rostock.

Foto: dpa, sts sab wst

Politik ist vielen Bürgern fremd. Eine Gesprächsstörung zwischen den Politikern und den Bürgern bestimmt den Alltag. So erreicht Politik nicht mehr die Lebenswelt, die Identität der Bürger. Medial kommt die Politik abstrakt oder global daher - gerade für die sogenannte bürgerliche Mitte. Diese ist eine gefühlte Zugehörigkeit. In einer Zuschreibung von außen bilden die etablierten Parteien des Bundestages diese breite Mitte unserer Konsensdemokratie differenziert ab. Doch diese Mitte erscheint heute heterogener, bedrohter und von Status-Ängsten geplagt.

 Karl-Rudolf Korte spricht über die Politikverdrossenheit.

Karl-Rudolf Korte spricht über die Politikverdrossenheit.

Foto: RP/Andreas Krebs

Im Kontext der Grenzöffnung vom Sommer 2015 werden neue Identitätsanker gesucht. Von Alters her trafen zwei definitorische Merkmale auf das Bürgertum zu. Es war eine Bevölkerungsgruppe, die von Mauern geschützt in einer Stadt lebte und besondere Privilegien genoss. Heute gehören dazu komplexe Sicherheit sowie mehr Kopf- als Handarbeit in einer Dienstleistungsgesellschaft.

Die bürgerliche Gesellschaft stellte eine Gegenöffentlichkeit gegen Adel, Kirche und Handel dar. Dies zwang die Herrschenden, sich zu legitimieren. Demokratie ist ohne Bürgerlichkeit nicht lebensfähig. Doch die Bürgerlichen fühlen sich im Moment verunsichert in der politischen Defensive. So zeigen sie sich auch anfällig für populistischen Protest und helfen fremdenfeindliche Töne salonfähig zu machen.

"Eine Politik der Mitte hat die vordringliche Aufgabe, den Bürgern die Angst zu nehmen"

Eine Politik der Mitte hat die vordringliche Aufgabe, den Bürgern die Angst zu nehmen, was die "Berliner Politik" offenbar nicht ausreichend hinbekommt. Bislang surft die AfD geschickt auf den Wellen der diffusen Angst. Sie formt neue Koalitionen der Angst. Die bürgerliche Mitte sucht durchaus Sicherheit, aber auch gleichermaßen moralischen Ernst, gemeinwohlorientierten Kaufmannsgeist und sozialstaatlichen Pragmatismus. Die Mitte versteht sich immer noch als Mehrheitsgesellschaft, die Minderheiten schützt. Doch wie lange noch? Die AfD agiert programmatisch anders - ausgrenzend. Die bürgerliche Mitte zeigt sich extrem anfällig für diese zukunftsängstliche Empörungsbewegung.

Die progressive Mitte wiederum, die sich weiterhin aktiv an Wahlen beteiligt und die sowohl die Merkel-Mitte als auch die große Koalition bislang noch stärkt, gibt es durchaus. Aber sie ist nervös. Sie fordert eine Rückgewinnung nationaler Souveränität, Entschlackung des europäischen Apparats und kontrollierte Zuwanderung. Ob Resilienz-Management im bekannten Duktus der Kanzlerin dafür noch ausreicht, kann bezweifelt werden. Denn offensive Vorhaben, eindeutige Erklärungen, Fehlereingeständnisse und emotionale Impulse, die strategisch für eine Mobilisierung der Mitte notwendig wären, fehlen bislang. Reparaturarbeiten dominieren. Nimmt neben der persönlichen Haftung der Kanzlerin für die Grenzöffnung noch der gefühlte Überdruss an ihrer Person zu, verpufft jede Chance einer klugen Kampagnenplanung für die Bundestagswahl - aus Sicht der Unionsparteien.

Die große Aufgabe: Wie schafft man Demokratie-Erlebnisse?

Wie können die etablierten Parteien unter diesen schwierigen Rahmenbedingungen gemeinsam für bürgerliche Werte aktiv werben, für Komplexität in einer globalisierten Einwanderungsgesellschaft? Oder noch grundsätzlicher: Wie wirbt man für Pluralität? Wie schafft man Demokratie-Erlebnisse, um für die Vorteile des sozialen und gesellschaftlichen Friedens aus der Mitte heraus zu werben? Das wird anstrengend. Denn die Antworten umschreiben Identitätsmerkmale, die mit einem positiven Freiheitsverständnis zusammenhängen - keinem Fremdeln mit der Freiheit der Andersdenkenden. Populisten fühlen sich überfordert, eine Solidarität mit Fremden auszuhalten. Die bürgerliche Mitte hat ein Mandat für Solidarität und zivilisatorische Standards. Nimmt sie diese Aufgabe an?

Die weiteren Erfolge der AfD werden maßgeblich vom Agieren der anderen Parteien abhängig sein. Das gilt vor allem für immer noch vorhandene moralische Höhenflüge der Mitte-Parteien. Wer das in großen Teilen antipluralistische Programm der AfD kritisiert, tut dies bislang immer im Gestus des Besserwissers. Populistische Parteien sind nicht nur anti-elitär: "Wir gegen oben!". Sie sind auch antipluralistisch, weil sie das "Wir" immer nur auf sich selbst beziehen. "Wir" bedeutet danach der wahre Volkswille.

Doch auch liberale Demokraten, die das offene Gesellschaftsmodell verteidigen, verfallen ebenso oft in moralisch abgrenzende Kategorien, die herablassend auf protestbereite Wähler wirken. So sollte der Satz "Wir schaffen das" die gleiche moralische Qualität haben wie die Umkehrung "Wir schaffen das nicht". Wer verfassungslegitime politische Alternativen nicht denkt, stärkt die Extreme.

Über alle Alternativen sollte in Parlamenten heftig gestritten werden, als wichtige Empörungsorte der Zukunftsgestaltung. Protestparteien können im fluiden Parteiensystem an Zustimmung verlieren, nicht durch die thematische Anbiederung der Etablierten oder therapeutische Hilfs-Versuche, sondern durch Abrüsten des moralischen Hochmuts. Populistische Volksbelauscher überrascht man mit argumentativer Augenhöhe, neugierigem Zuhören und mutiger Zuversicht. Wo bleibt der demokratische Trotz der bürgerlich Privilegierten heute?

Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.

(RP)
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