Interview mit Grünen-Chef Cem Özdemir "Knallharte Gegenwehr gegen rechte Gewalt"

Berlin · Die Neonazi-Mordserie beschäftigt die deutsche Politik. Im Interview sprach Grünen-Chef Cem Özdemir mit unserer Redaktion über die Neonazi-Mordserie, die Konsequenzen aus der rechten Gewalt für den Staat und die Zukunft seiner Partei.

Neonazi-Terror: Die Chronologie der Morde
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Foto: dapd

Özdemir Ich erlebe, dass Verwandte, Nachbarn, Freunde und auch meine eigenen Eltern sich Sorgen machen und wieder mit einem anderen Gefühl leben. Da kommen Empfindungen hoch, von denen wir geglaubt haben, wir hätten sie nach den Ereignissen von Mölln, Solingen, Hoyerswerda und Rostock Anfang der 90er Jahre überwunden. Das ist bedrückend.

Ist es so schlimm wie Anfang der 90er Jahre?

Özdemir Das Vertrauen in den Rechtsstaat ist nachhaltig erschüttert, weil die Menschen davon ausgingen, dass sich nach den Gedenkveranstaltungen, Lichterketten und durch die politischen Schlüsse aus den Ereignissen tatsächlich etwas geändert hat in Deutschland. Dann aber mussten die Opfer erfahren, dass sie allein gelassen und teilweise sogar als Täter verdächtigt wurden.

Die Polizeigewerkschaft wehrt sich gegen den Vorwurf, die Ermittler seien auf dem rechten Auge blind.

Özdemir Dass das rechte Auge dieses Staates deutlich schlechter sieht, ist eine Tatsachenbehauptung. Dafür haben wir erdrückende Belege. Wenn beispielsweise ein Jugendclub überfallen wird und Kameras belegen, dass das Glatzen waren, die Ermittler aber keinen politischer Hintergrund sehen, wie soll man das sonst nennen?

Welche Konsequenzen müssen daraus gezogen werden?

Özdemir Das oberste Gebot ist erst einmal Aufklärung. Wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen, können wir dann über Konsequenzen beraten. Jetzt müssen aber erst einmal die vielen offenen Fragen der Ermittler beantwortet werden. Ein Sonderermittler könnte ein sachdienlicher Baustein dabei sein. Wenn alle Puzzleteile am Ende zusammengesetzt sind, sollte Deutschland eine andere Sicherheitsarchitektur haben.

Das bedeutet?

Özdemir Die Antwort auf rechte Gewalt kann nur eine knallharte Gegenwehr sein. Als Sozialpädagoge bin ich über jeden Verdacht erhaben, ein Hardliner zu sein. Aber wir haben gesehen, wohin es führt, wenn der Staat nicht entschieden genug hinschaut und handelt. Nur so können wir Sicherheit für uns alle gewährleisten.

Wie muss eine nationale Trauerfeier gestaltet werden?

Özdemir Ein Staatsakt oder eine entsprechende Trauer-Veranstaltung muss sich daran messen lassen, wie sie den Opfern gerecht wird. Diese müssen im Mittelpunkt stehen, nachdem sie so viele Jahre im Stich gelassen wurden. Wir müssen ihren Schmerz an uns heran lassen. So wie man es früher zu Recht bei den Opfern der RAF gemacht hat, muss wir auch jetzt sagen: Ihr Schmerz ist unser Schmerz. Wer einzelne Teile der Gesellschaft angreift, greift die Gesellschaft insgesamt an.

Brauchen wir ein NPD-Verbot - koste es, was es wolle?

Özdemir Wir dürfen auf keinen Fall riskieren, mit einem neuen Anlauf für ein NPD-Verbot vor dem Verfassungsgericht oder vor dem Europäischen Gerichtshof zu scheitern. Unter den Voraussetzungen bin ich dafür, dass wir erneut einen Anlauf für ein NPD-Verbot unternehmen. Eine Voraussetzung ist, dass vorher die V-Leute abgeschaltet werden.

Bundesweit liegen die Grünen bei rund 16 Prozent. Bleiben Sie damit unter Ihren Möglichkeiten?

Özdemir Die Grünen haben ein großes Potenzial, das sie noch nicht ausgeschöpft haben. Ein Erfolgsmodell, das wir uns sehr genau ansehen, ist Baden-Württemberg. Es braucht kein Entweder-Oder. Wir können uns für eine liberale Drogenpolitik und für ein Adoptionsrecht für Lesben und Schwule einsetzen und gleichzeitig auf neue Bündnisse mit kleinen und mittleren Unternehmen setzen. Das ist kein Widerspruch.

Wenn sich die Baden-Württemberger am Sonntag für den Bahnhof S21 entscheiden, müssen die Grünen dann aus der Landesregierung ausscheiden?

Özdemir Diese Frage stellt sich nicht. Wir werden das Ergebnis akzeptieren, aber die spannendste Frage wird auch durch den Volksentscheid nicht beantwortet werden: Wie hoch sind die tatsächlichen Kosten? Diese Antwort ist Herr Grube der Regierung bis heute schuldig geblieben. Grün-Rot hat im Koalitionsvertrag die klare Obergrenze von 4,5 Milliarden Euro gezogen.

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